Jean Metten 1884 - 1971
Inhalt:
Jean Metten, "Der Rheinhessenmaler".
Versuch über den Maler und seine Landschaft
von Dr. Anton Maria Keim
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Ganze zweiundvierzig Zeilen, einen einspältigen Nachruf, widmete das
Feuilleton der Mainzer "Allgemeinen Zeitung" am 29. Juni 1971 dem drei
Tage zuvor in Mainz verstorbenen Maler Jean Metten. In der Überschrift
erscheint der gebürtige Nieder-Olmer plakativ als "der Rheinhessen -
Maler". "Man hatte ihn den 'Maler von Rheinhessen' genannt", heißt es in
der Würdigung. Festgestellt werden die Anregungen von Impressionismus
und Pointillismus, die den jungen Nieder-Olmer in seinen Leipziger
Studienjahren stilistisch geprägt hatten. "Weitgereist" wird er genannt
wegen seinen ausgedehnten Italienreisen, seinen Begegnungen mit Locarno,
Mailand, Florenz, vor allem aber mit Rom, den alten Meistern und dem
kunstverständigen Papst, - und "viel geehrt". Als starker Kontrapunkt
wird besonders aus Biographie und Werk hervorgehoben: "Aber seine Liebe
galt seiner Heimat, die er mit ihren Menschen, ihrer Landschaft und
ihren kleinen verträumten Ortschaften in zahlreichen Gemälden,
Aquarellen und Zeichnungen immer wieder festgehalten und nachgeschaffen
hatte." Der Nachruf aus dem Jahre 1971 ließ aber auch etwas vom
Schicksal des Metten - Werkes ahnen:
"Seine letzten Jahre waren eingetaucht in jenes glanzlose Schicksal, das
so manchem Künstler beschieden ist, der sehr alt wird, der sich selbst
überlebt, - und das heißt: Einsamkeit, Vergessen, Resignation. Aber sein
Tod wird bei denen, die damals und auch noch in den Jahren unmittelbar
nach dem Kriege am Kunstgeschehen von Rheinhessen teilhatten, gute
Erinnerungen wachrufen."
Schon Hans Ulbricht (1905 - 1972), der aus Mainz stammende, gewiß zu
Unrecht vergessene Schriftsteller - wie Jean Metten konsequenter Gegner
des Nazi - Regimes, anders als der überzeugte Katholik Jean Metten ein
engagierter Sozialist, ein dezidierter "Linker", der einige Jahre in der
Aufbauphase der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur
Sekretär der dortigen - renomierten - Literaturklasse, nach seinem
Gedichtband "Landschaft, Traum, Nacht und Musik" (erschienen 1950) ein
einfühlsamer Kenner des Jean Mettenschen Schaffens, hat 1960 in einem
Essay für Walter Heists Monatsschrift "Das Neue Mainz" den Titel "Der
Rheinhessen - Maler", wenn nicht geprägt, so doch weiter popularisiert.
Im gleichen Jahr stellte Jean Metten in der Mainzer Kunsthalle, dem
"Haus am Dom", unter dem Titel "Bildnisse der Landschaft und des
Menschen" mit weiteren zehn Künstlerinnen und Künstlern, darunter Maria
Ziegler, Adam Antes, Frieda Best, Heinrich M. Seck - Carton, sechs
Gemälde, zwei Radierungen (aus dem Zyklus "Mainzer Dom") und einen
Kupferstich aus. Vier dieser ausgestellten Arbeiten sind ausgesprochen
rheinhessische Motive (Rheinhessische Landschaft - Nieder-Olm, Straße
durch Rheinhessen, Blick in die Dorfgasse, Flieder). Die Kurzbiographie
stellt Metten lapidar vor: "Bekannt als "Der Rheinhessen-Maler". Schuf
in aller Welt berühmt gewordene Radierungen vom Mainzer Dom ..."
Wer seitdem von Jean Metten spricht, nennt den "Rheinhessen - Maler",
benutzt diesen Stempel, diese Plakette, den Titel oder das Gütezeichen
in diesem Begriff. Abgesehen allerdings von der allgemeinen
Vergessenheit, die fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tode festgestellt
werden muß, auch wenn seine immer noch stets bewunderte "Rheinhessische
Landschaft" - eine der wenigen offiziellen Ankäufe zu seinen Lebzeiten -
gegenüber Teo Gebürschs unkonventionellem Domblick aus dem "Kalten
Loch" zu den bedrohlich aufsteigenden romanischen Osttürmen im reichlich
frequentierten Empfangsraum des Mainzer Rathauses hängt. In dem von
Volker Gallé bearbeiteten Band "Rheinhessen. Entdeckungsreisen im
Hügelland zwischen Worms und Bingen, Mainz und Alzey", in der Rheihe der
DuMont Kunst - Reiseführer 1992 erschienen, sucht man vergeblich einen
namentlichen oder bildbezogenen Hinweis auf den so apostrophierten
"Rheinhessen - Maler".
Das regionale oder lokale Gütesiegel für einen Künstler, ob
Schriftsteller oder Maler, kann sich leicht als recht ambivalente
"Falle" seiner Würdigung und Einordnung erweisen. Lokale Festschreibung
nach Werk und Biographie kann liebenswürdig wirken, motivbezogen gedacht
sein, aber auch Zuweisung zur Provinzialität und damit zu minderem
künstlerischem Anspruch ausmachen. Wären Günter Grass mit seiner
kaschubischen Ansiedlung der "Blechtrommel" ein Danziger, Thomas Mann
wegen seines Lübecker Familien - Epos von den Buddenbrooks
"Heimatdichter" im abwertenden Sinne? Ganz gewiß nicht. Auch Wilhelm
Holzamers Bedeutung in der Jahrhundertwende läßt sich beileibe nicht
klassifizieren als rheinhessische, gar Nieder-Olmer Lokalpoesie.
Elisabeth Langgässer hat mit ihrem über weite Teile in Alzey spielenden
Roman "Das unauslöschliche Siegel" bedeutende Nachkriegsliteratur
geschrieben. Jeder Künstler schöpft mit Recht aus seiner Erlebnis-,
seiner Erfahrungswelt. Bei Goethe, dem Frankfurter, spürt man es bis in
die mundartbestimmten Endreime ... Jeder Bär brummt nach der Höhle, aus
der er kommt. So wie die Sprache aus Erlebnisräumen kommt, so bestimmen
optische Erfahrungen und Erlebnisse nach Farbe und Form den bildenden
Künstler. Kunst gedeiht eben nicht im sterilen, im luftleeren "Raum".
Für den Nieder-Olmer Jean Metten wurde "Rheinhessen" bei allen
vorübergehenden, nicht lange vorhaltenden "Ausbruchsversuchen" (Leipzig,
Italien) zum biographischen und künstlerischen Schicksal. Seinen
Nieder-Olmer "Mitbürger" Wilhelm Holzamer gelang nur scheinbar der
Ausbruch aus bürgerlicher und dörflicher Enge, er nahm allerdings das
gefährliche Schicksal des "Entgleisten", so der Titel des unvollendeten
Romans, und des von Dorfmoral Verfemten auf sich. Jean Mettens
biographisches und künstlerisches Werk wurde von der Dämonie der Enge
geprägt.
Wer Jean Metten in eine rheinhessische Mal- und Malertradition einordnen
möchte, muß sich der Gegenfrage stellen, ob denn diese Landschaft einen
Wurzelboden für bildende Künstler hergibt oder ergiebige Objekte
künstlerischer Darstellung anbietet. Adam Elsheimer mag aus dieser
Landschaft kommen, in seinem Werk spürt man kaum "Rheinhessen", wenn
diese Provinzialbezeichnung, mit der niemals Heimatliches, Anmutendes,
gar Idyllisches assoziiert wurde, auch erst Jahrhunderte später als
Produkt des Wiener "Länderschachers" nach 1815 in Umlauf kam. Darf man
Mathis Neidhard - Mathias Grünewald - wegen seines Isenheimer Altars der
Hintergründiges vom Blick aus der Kurmainzer Binger Burg Klopp
herleitet, für diese Landschaft "vereinnahmen". Dies wäre gewagt. Eher
findet diese konturenarme, romantischer Verträumtheit bare, von Nutzen,
Nutzung und Nützlichkeit seit langem bestimmte Region Annäherung bei
Malern unseres Jahrhunderts. Fast beliebige Beispiele, die für
wesentlich mehr stehen: bei Peter Paul Etz mit seinen fast monochronen
Ausflügen in die auch fast lineare Welt dieser Landschaft, bei Heinz
Leitermanns penibel genauen Zeichnungen, die mit dem Blick des
Architekten Dorfbilder, Gassen und Kirchen sehen, "erfassen"; bei
Hermann Schmidt - Schmied, der sich spät auf die Suche nach Farbe, Form
und Licht in dieser hügeligen kleinen Welt begibt; bei Alfred Mumbächer,
der die Uferränder des Rheins als belebtes Industrieland begreift; bei
Hannes Gaab, der mit seinem eigenwilligen "Strich" idyllische
Bootsperspektiven festhält; oder auch bei Guido Ludes in seinen
impressionistischen Landschaftsabstraktionen, die ein neues, ganz
ungewohntes und ungewöhnliches Rheinhessen - Bild vermitteln. Von all
diesen "Rheinhessen - Bildern" sind Jean Mettens Bilder um Welten
entfernt.
Der bereits zitierte Essay Hanns Ulbrichts von 1960 nennt Jean Mettens
Landschaften "heiter". Der Künstler sei "mit dem Stift den Ansichten
rheinhessischer Orte wie ein Topograph nachgegangen". Bei aller
akademischen Akkuratesse - er spielt auf die erfolgreiche Leipziger
Studienzeit an, seine hohe technische und gestalterische Kunst des
Radierens - sei sein Stift gegenüber dieser rheinhessischen Landschaft
"nie steif" geworden. Alles, was er eingefangen habe, mit Auge, Stift
und Pinsel, "bleibt immer ein beseelter Organismus".
Der Essay Hanns Ulbrichts provoziert einen verwunderten neuen Blick auf
Rheinhessen, seine Hügel, seine Dörfer, Äcker und Wingerte, wenn er von
der Heiterkeit der Mettenschen Landschaftsbilder spricht:
"Heiter sind Mettens Landschaften. Vom Impressionismus herkommend, tupft
er mit pointillistischer Sorgfalt die farbigen Reize. So lobt und
preist er das Land, darin er geboren ist und lebt. Wenn man von
Rheinhessens Schönheit spricht, so unter anderem darum, weil Metten sie
offenbart hat. Sein Himmel hat ihn begnadet - mit Einfachheit, Weite und
beseligendem Glanz."
Ist Jean Metten mit seiner reichen und farbigen Bilderwelt - Porträts
typischer rheinhessischer Landmenschen, stimmungsvoller Dorfgassen und
Landschaften, dem brauchtümlich, religiös wie magisch bestimmten
Würzwisch - Zyklus -, einer Bilderwelt, die in ihrer beeindruckenden
Fülle noch aus dem Nachlaß entdeckt werden will, - (ist dieser Maler)
der Entdecker eines für nüchtern, unromantisch, sachlich gehaltenen
Rheinhessens?
Mettens rheinhessischer Landsmann Carl Zuckmayer hat in seinen
Lebenserinnerungen "Als wärs ein Stück von mir" seine Heimat geschildert
als eine Gegend, die "landschaftlich nichts mit dem zu tun hat, was man
unter Rhein - Romantik versteht." Diese Gegend zeige "in ihrer starken
besonnten Fruchtbarkeit ein äußerst einfaches, nüchternes Gepräge. Die
Rebstöcke stehen ordentlich und brav, die Obstbäume in Reihen
gegliedert, alles Land ist Nutzland, und nur der rötliche Hautglanz
verrät etwas von ihrem heimlichen Heißblut, von ihrem gezügelten
Temperament." Und er verweist auf die "bescheidenen Haufendörfer, manche
mit einer hübschen alten Kirche und ein paar Fachwerkhäusern, die
meisten aus schlichtem, graugelbem Backstein gebaut, ins Gefäll der
Wingerte eingeschmiegt, ... das weithin schwingende, wellige oder
bucklige Ackerland, ... das flache Gelände der Obstkulturen, ... die
sandigen Spargelfelder ..." In der Phantasie bevölkert Zuckmayer diese
Landschaft mit Figuren der widersprüchlichen Geschichte, der tragischen
wie der freundlichen Epochen. Aber: "Das Gesicht der Landschaft bleibt
gelassen und anspruchslos. ..." Dies könnte der Kontext, die Anleitung
zum Verständnis der Rheinhessen - Bilder Jean Mettens sein. Ebenso wie
die Anmerkungen des Verfassers der "Rheinhessischen Volkskunde" von
1930, Wilhelm Hoffmann, der für diese Landschaft feststellt, sie zeige
wohl "goldene Saaten in den Tälern und an den Höhen mehr oder minder
edlen Wein, aber hochragende Bergesgipfel mitnichten noch zerklüftete
Felsgebilde noch waldumrauschte Seen, sondern in der Haupsache hügeliges
Land".
Für die Landschafts-Auffassung Mettens darf man auch einen poetischen
Landsmann, den "Bauerndichter" Isaak Maus (1748 - 1833) aus Badenheim,
zum Zeugen anrufen. In der blumigen, von Rokoko-Manier beeinflußten
Sprache wirbt er in seinen 1786 erschienenen Gedichten für den Reiz der
Landschaft, die nach der "Besitzergreifung" durch den Großherzog von
Hessen - Darmstadt nach dem Wiener Kongreß 1816 allmählich die
Bezeichnung "Rheinhessen" erhielt. Er fordert auf, "Sinn" dafür zu
haben, was hier "die Natur uns bietet". Seine Bilder, seine Motive
erinnern an Mettens Rheinhessen-Bild(er):
Hier schlängelt sich ein Silberbach
Durch bunt geschmückte Wiesen,
Die Weide strebt der Erle nach
Und diese jenen Riesen
Von Bellen, deren stolzes Haupt
Zum Staunen, königlich umlaubt,
Bis an die Wolken reichet.
Hier schlüpft ein Eidechs durch das Gras
Mit goldgesticktem Rücken,
Dort sucht ein aufgescheuchter Has
Sich in den Klee zu drücken,
Hier trägt ein Finkchen wohlgemut
Das Futter für die junge Brut,
Und dort schlägt froh die Wachtel.
Dort steht der kleine Halmenwald,
Hebt stolz die tausend Ähren,
Von deren reichlichem Gehalt
Sich Fürst und Bauer nähren.
Hier prangt ein Acker mit Gemüs,
Dort winkt die Traube - ach, so süß
Wie Honig aus der Blume.
Lobpreis der kleinen Welt und der kleinen Dinge, des Unspektakulären, des Schlichten, des Naturhaften.
"Wer Sinn für diese Szenen hat,
Lebt glücklich auf dem Lande"
lautet in Isaak Maus' Schlußstrophe die einfache Lebensdevise. Es
scheint, als habe Jean Metten diese kleine heimatliche Welt überallhin
mitgenommen, nach Leipzig, nach Rom. Dorthin nicht nur im Kopf, sondern
auch in der Mappe mit seinen Radierungen vom Mainzer Dom, die er - ein
Höhepunkt für den rheinhessischen Katholiken, Papst Pius XI. überreichen
durfte. Wenn der junge Künstler sich an der Akademie für graphische
Kunst in Leipzig die klassische "Zucht der Alten" erwarb, gerade
Radierung und Buchkunst, wenn er nach klassischer Malertradition mit
Heinz Müller-Olm durch Italiens berühmte Galerien und Sammlungen
pilgerte, so trennte er sich doch nicht vom Umkreis der rheinhessischen
Hügel. Weil er kein "modischer" Mensch war, zog ihn auch keine
"modische" oder "moderne" Richtung in ihren Bann. Seine Arbeiten weisen
ihn aus als beständig, aufgeschlossen, bedächtig, kritisch. Diese
Tugenden bewahrten ihn vor den Versuchungen der Nazizeit, denen Künstler
gerade mit eigener "Bodenhaftung" nur allzu leicht verfallen konnten.
"Blut und Boden", systemgefällige "Heimatkunst", mannmännliche
kraftvolle Bauernverherrlichung, "Gesundbrunnen Dorfgemeinschaft",
bodenverwurzeltes "Brauchtum" - all das war gefragte Staatskunst. Metten
blieb sich und seinem "heiteren" Rheinhessen - Bild treu. Seinen Freund
Heinz Müller-Olm, der zu jener kleinen diskussionsfreudigen, auch
weinseligen, als regimeabgewandte Nische gepflegten Runde in der
"Schönen Aussicht" gehörte, traf bald nach Hitlers Machtübernahme der
Kunstdiktator. Er wurde als "Entarteter Künstler" verfemt. Daß Metten
sich bewußt dieser Kunstdiktatur verweigerte, zeigen die Arbeiten, die
von ihm in der Ausstellung "Das zerstörte Mainz" 1943 gezeigt wurden.
Gefragt waren pathetisch anklagende, zum "unbeugsamen Siegeswillen"
aufrufende "Durchhaltebilder". Was Jean Metten mit seinen engeren
Malerfreunden zeigte, fand marginale Erwähnung mit dem dünnen, aber von
heute aus höchst ehrenden Hinweis auf "Erlebnistiefe und spürbare Liebe
zur Heimat."
Mit diesen Empfindungen hat er zeitlebens sein Dorf gesehen und gemalt
oder gezeichnet. Die Heuhaufen und Mühlen gehören in den Kanon dieser
Motive, die Straßen, wie der Stadecker mit ihren typisch rheinhessischen
"Chausseebäumen", die Zigeunerwagen, die Kartoffelernte, die Portraits
der Nachbarn, - kräftige Bauerngesichter, Typen, Individuen, denen man
die charakteristischen Merkmale des Rheinhessen ansieht: ein wenig
Rechthaberei, Diskutierfreude, Trinkfreude, Kritiklust.
Über den künstlerischen Wert hinaus sind diese Bilder von hohem
Erinnerungswert und haben nach der stürmischen Entwicklung und
Veränderung für diese Dörfer dokumentarische Bedeutung. Dies gilt auch
für den Zyklus der Radierungen "Mainzer Dom". Er ist ja entstanden in
der Domrettung gegen Ende der zwanziger Jahre. Die Chance der durch die
Bauarbeiten bedingten Schließung des Domes nutzte Jean Metten für seine
ungestörte Arbeit. Der Dom - Zyklus steht in Mettens Werk eigenständig
da. Wo immer er sonst Motive erfaßt, gestaltet, nimmt er seine Dorfwelt
mit hinein. Sein Zyklus um die Kräuter und Blumen des "Würzwischs", der
am höchsten Marienfeirtag, Mariae Himmelfahrt, am 15. August jährlich
gebunden wird, zur Heilung, zur Abwehr, zum "Brauchen", steckt voller
liebenswürdiger lokaler Details. Natürlich ist die Gottesmutter eine
rheinhessische Bauersfrau mit Kopftuch. Und der Wegrain, die Felder, die
Äckerstruktur, das alles ist seiner Erlebniswelt entnommen, das
Heiligenhäuschen im Hintergrund steht auf dem Wege nach Ebersheim, und
der Bachlauf meint die Selz.
Und dies gilt auch für eines seiner großen Werke, für sein imponierendes
Alterswerk, mit dem er zugleich seine größte Enttäuschung erleben
mußte: der fünfzehn Stationen - zu den vierzehn Leidensstationen auch
die "Auferstehung" - umfassende "Kreuzweg". In der großen Ausstellung
"Aufbruch nach 1945. Bildende Kunst in Rheinland-Pfalz 1945 - 1960", die
im Jahre 1987 aus Anlaß des vierzigjährigen Bestehens des Landes
Rheinland-Pfalz im Landesmuseum Mainz ausgerichtet wurde, zählt Jean
Metten gerade mit diesem "Kreuzweg" zu den Künstlern des "Aufbruchs"
nach der Stunde Null. Mit einem Bild "Christus vor Pilatus" ist Metten
im Katalog vertreten, in der Ausstellung waren aus dem "Kreuzweg" die
Stationen "Verurteilung" und "Kleiderberaubung" zu sehen. Der Text der
Biographie vermerkt neben den Lebensdaten die Umstände dieses zuletzt
verweigerten Auftragswerks:
"Diese Auftragsarbeit ist das Alterswerk eines Künstlers, dessen Leben
sehr reich war an Enttäuschung und Zurücksetzung. Der "Kreuzweg" schöpft
seine Gestalten aus einem einfachen, bäuerlichen Milieu, aus dem der
Künstler selbst stammt und dem er ein Leben lang verwurzelt blieb. Das
Bischöfliche Ordinariat Mainz verweigerte die Genehmigung zur Aufnahme
der "Stationen" in die Nieder-Olmer Kirche."
Der "Kreuzweg" ist Teil des reichen Metten - Nachlasses. Wer ihn
betrachten kann, dem offenbart sich die Leidensgeschichte Jesu in der
bäuerlichen Welt Rheinhessens. Simon mit der Harke, das ist ein
rheinhessischer Bauer auf dem Weg zum Acker, die Gesichter der Menschen
um das Kreuz sind vertraut, Pilatus thront über einer aufgehetzten
Dorfmeute, die nach Lynchjustiz schreit. Ausdrucksstark sind die
Gesichter. Die Trauer, mit der Jesu Leichnam vom Kreuz abgenommen wird,
ist rührend naiv. Die fünfzehnte Station, die "Auferstehung", blieb
unvollendet ....
Die Skizzenbücher der letzten Lebensjahre Jean Mettens sind
Fensterblicke ins rheinhessische Land, liebenswürdige Notate seiner
Heimat. Kugelschreiber - Blättchen, Bleistift - Diarien, - Kinder,
Kaninchen, Vögel, Blumen und die Dorfgasse. Die Reize der kleinen
Dorfwelt, die gerade im Begriff ist, ihre letzte Heimeligkeit und Anmut
preiszugeben. Es ist wie ein Epilog auf jene Heiterkeit und Schönheit,
die er jahrzehntelang dieser Welt abgewonnen hat und für die er
beharrlich und mit Liebe malend warb. Skizze 12. und 13. Oktober 1969:
"Die kleine Meise ist wieder da ..." Sie bestätigt eine Feststellung des
Nachrufs von 1971:
"Zur geübten Hand, zum geschulten Auge kam der Sinn für das besondere
Detail und für das Unnennbare hinter den Dingen, das diesen Künstler
über den Rang eines Heimatmalers erhob."
Wer diese scheinbar konturenlose, wenig poetische, ganz unromantische
Landschaft der Nützlichkeit in ihrer Heiterkeit und ihren Reizen
kennenlernen und verstehen will, lese Zuckmayer, Langgässer, Wilhelm
Holzamer, Anna Seghers, um einige der großen Schriftsteller der
Landschaft zu nennen. Aber er übersehe nicht die Möglichkeit des
aufschließenden Blicks, die sich mit dem Werk Jean Mettens anbietet.
Jean Metten 1884 - 1971
Kindheit in der »Schönen Aussicht« – Leben mit der Religion ⇧
Ob der Knabe lange lebt, der da am 9. Mai 1884 in der »Wirtschaft zur
Schönen Aussicht« in Nieder-Olm geboren wird, ist nicht sicher. Die
Kindersterblichkeit in jenen Tagen ist hoch. Und den Eheleuten Philipp
und Apollonia Metten sind zwei von drei Kindern schon im Säuglingsalter
weggestorben.
Sie taufen den Jungen am 11. Mai 1884 auf den Namen Johannes (Jean). Der Großvater, Johann Luckert, ist Pate.
Es ist ein einfacher Haushalt in der Wirtschaft an der Kreuzung Pariser
Straße/Stadecker Chaussee. 1877 hatte Philipp Metten das Anwesen
gekauft, ein Jahr vor seiner Hochzeit. Seit dem Bau der Bahnlinie 1871
ist die Lage der »Schönen Aussicht« längst nicht mehr so günstig, an der
Straßenkreuzung zwischen der Verbindung Alzey-Mainz und dem Binger
Land.
Die Kundschaft besteht zumeist aus Bauern, die in der benachbarten
Hubertus-Mühle ihr Korn mahlen lassen. Und zwischenzeitlich bei einem
Schoppen Wein in der Wirtschaft ihr Vesperbrot verzehren.
Philipp Metten lebt denn auch als Land- und Schankwirt. Seinen Wein baut
er selbst an, zudem betreibt er ein klein wenig Landwirtschaft. Nach
heutigen Maßstäben sind die Lebensverhältnisse ärmlich. Auch im
Vergleich zu anderen Nieder-Olmer Bauern ist der Wohlstand der Mettens
gerade durchschnittlich. Doch es reicht, die schließlich fünfköpfige
Familie zu ernähren. Denn zu den Kindern Apollonia (geb. 26. 8. 1879)
und Johannes wird am 15. Januar 1888 Andreas geboren. Die Familie Metten
stammt aus dem Rheinhessischen. Die Vorfahren waren Winzer, Bauern,
Bäcker, keine Menschen höherer sozialer Herkunft oder
überdurchschnittlicher Bildung also.
Das Milieu, in dem die drei Kinder aufwachsen, ist typisch für
Rheinhessen dieser Zeit. Das karge, arbeitsreiche Leben richtet sich
nach dem Kirchenkalender. Religion und tägliche Arbeit sind untrennbar
miteinander verbunden. Selbstverständlich sind Morgen-, Tisch- und
Abendgebete – Katholizismus wird gelebt.
Der liturgische Kalender bietet den Gläubigen oft Gelegenheit, den
Glauben an festgelegten Riten nachzuvollziehen. Sei es am für Nieder-Olm
so wichtigen Sebastianustag (der heilige Sebastian hat – der
Überlieferung nach – Nieder-Olm im Mittelalter von der Pest befreit.
Somit gilt er als Schutzheiliger des Ortes), sei es zu Mariä Lichtmeß,
der Fastenzeit oder Christi Himmelfahrt. Gottesdienst und
Bittprozessionen werden zu inbrünstigem Ausdruck naiven und bewußten
Glaubens. Ein Glaube, der im jungen Johannes Metten tiefe Wurzeln
schlägt. Die Formen, in denen die katholische Religion sich äußert,
bestimmen Mettens Lebenslauf und später sein künstlerisches Werk.
Hervorzuheben sind Karfreitag und Mariä Himmelfahrt. An Karfreitag, dem
zweiten der drei strengen Fastentage, wird mittags der Kreuzweg gebetet –
eine Erfahrung, die sich in Mettens so tragischem Alterswerk
niederschlagen wird. – Zu Mariä Himmelfahrt erfolgt die Kräuterweihe.
Heilkräuter aus Feld und Flur werden schon Tage vorher gesammelt. Es
gibt genaue Bestimmungen, welche Pflanzen dazugehören, sie finden nach
der Weihe als Heilkräuter vielfach Verwendung. Krankem Vieh werden sie
im Wasser als Tee gereicht. Dem Volksglauben nach sollen die Kräuter –
unter dem Dachstuhl aufgehängt – auch vor Blitzschlag schützen. Der
Würzwisch, wie die gesammelten Heilkräuter genannt werden, wird Thema
des zweiten großen Zyklus im Mettenschen Werk werden.
Das Religions- und Naturverständnis, mit dem der junge Johannes Metten
aufwächst, wird am besten durch das Erntedank-Gebet gekennzeichnet, das
zum Erntedankfest am ersten Oktobersonntag gebetet wird:
»Allmächtiger Gott, Spender alles Guten. Die ganze Welt hast Du ins
Dasein gerufen. Alles erhältst Du mit Deiner Allmacht. Für Deine
Geschöpfe sorgst Du in väterlicher Güte. Du tust Deine Hand auf und
erfreust alles, was da lebt, mit Segen. Du hast die Früchte des Feldes
reifen lassen. Wir danken Dir von Herzen für den Erntesegen dieses
Jahres. Deine Liebe und Güte hat uns reich beschenkt. Nie wollen wir
vergessen, gütiger Vater, daß jede gute Gabe von Dir kommt. Zu Deiner
Ehre und zu unserem Wohle wollen wir sie gebrauchen. Aus Dankbarkeit
wollen wir unsere notleidenden Brüder und Schwestern an Deiner Spende
teilnehmen lassen. Als treuer Verwalter Deiner Gaben wollen wir ihnen
beistehen, damit auch sie Deine Vatergüte preisen können. Deine Engel
mögen uns einst als reife Garben zur ewigen Ernte rufen. Dann laß uns
alle, arm und reich, teilnehmen an dem Gastmahl, das Du denen bereitet
hast, die Dich lieben. Durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.«
Zu den kirchlichen Festen kommen die privaten: die Erstkommunion als
Höhepunkt im jungen katholischen Leben, bei Johannes Metten am 25. 4.
1897, und die Firmung (13. 6. 1897). Für den jungen Johannes verwachsen
die liturgischen Jahressstationen untrennbar mit dem täglichen Leben.
Seine Weltanschauung, sein moralisches Empfinden und sein Anspruch an
die Mitmenschen werden durch sie geprägt.
Weil die wirtschaftlichen Verhältnisse bescheiden sind, werden die
Metten-Kinder früh zu landwirtschaftlicher Arbeit angehalten. Sie lernen
somit die Nöte des Bauern, dessen Kampf mit der Natur und dessen
Abhängigkeit von Gottes Fügung kennen.
Das Wachsen und Werden des Korns, des Weines, des Obstes, das Gedeihen
der Kräuter in den Wiesen: all das wird bewußt als Werk des Schöpfers
angenommen. Es verwurzelt einen tiefen, durch die eigene Anschauung der
Natur bestätigten Glauben. »Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater,
Schöpfer des Himmels und der Erde ...«, dieser Beginn des
Glaubensbekenntnisses ist für die Mettens keine Worthülse. Sie glauben
und leben danach. Die drei Metten-Kinder wachsen also in Ehrfurcht vor
der Schöpfung auf, deren Kraft sie im jahreszeitlichen Wechsel intensiv
wahrnehmen und erleben. Die Natur, das Leben, wird als Ausdruck von
Gottes Willen angenommen.
1890 wird Johannes Metten in die Gemeinde-Schule Nieder-Olm aufgenommen.
Sein erstes Zeugnis stammt aus dem Schuljahr 1895/96, in dem er die
erste Knaben-Klasse besucht. Klassenlehrer August Löffler beurteilt sein
Betragen mit »gut«, Fleiß und Fortschritte jeweils mit »im ganzen gut«.
Damit gehört Johannes zu den besseren seines Jahrganges, auch wenn er
kein herausragender Schüler ist. Im folgenden Schuljahr 1896/97 sind die
Noten ähnlich. Erst im Entlassungsjahr 1897/98 ändert sich das. Sein
Betragen wird als »recht gut« (= Note 1), Fleiß und Fortschritte mit
»gut« bewertet.
Vom 9. November 1898 bis zum 28. Februar 1899 besucht Johannes noch die
Fortbildungsschule Nieder-Olm, geführt von Lehrer Klein. Mettens
Bildungsweg unterscheidet sich somit nicht von dem anderer Nieder-Olmer
seines Jahrgangs. Er hat die nötigen Grundlagen, um als Bauer oder Wirt
leben zu können. Die höhere Schulbildung bleibt ihm – schon aus
finanziellen Gründen – versagt.
Dennoch erweitert sich der geistige Horizont des Knaben. Pfarrer
Johannes Baptist Cäsar Hesch, der von 1893 bis 1913 in Nieder-Olm wirkt,
fördert talentierte Jungen. Nur wenige Haushalte in der Gemeinde können
ihren Kindern eine weitere Ausbildung ermöglichen. Hesch zieht die
Knaben heran, lehrt sie Latein und Allgemeinbildung – natürlich auf
religiöser Basis. Er legt die Grundsteine zu Karrieren als Pfarrer oder
Verwaltungsleuten – vielleicht auch als Künstler?
Wie einige seiner Alterskameraden profitiert Jean Metten von dieser
Unterstützung. Gleichwohl läßt sich nirgends ein künstlerischer Einfluß
festmachen. Weder in der Schule noch im Bekannten- und Verwandtenkreis
lassen sich weitere Personen oder auch nur Ereignisse nachweisen, die
ihn der Kunst nahegebracht haben könnten.
Wie der Entschluß in Jean Metten reift, eine künstlerische Laufbahn
einzuschlagen, wird kaum zu rekonstruieren sein. Tatsache ist, daß der
14jährige mit Fleiß aus daheim zugänglichen Bildbänden Gemälde
abzeichnet. Möglich, daß der Knabe über die Schule zur bildenden Kunst
kommt. Er soll als 12- bis 15jähriger eine Madonna gemalt haben.
Jeans Schwester Apollonia trägt eine kirchliche Zeitung aus. Die
Exemplare für Nieder-Olm holt sie jeweils im Kapuzinerkloster in Mainz.
Dort – so eine Sage – hat sie einem Kapuzinermönch Arbeiten ihres
Bruders gezeigt. Der habe das Talent erkannt und darauf gedrängt, daß es
gefördert werde. – Keine dieser Erklärungen ist zu belegen.
Klar ist, es kann mit Mettens Wunsch nach einer künstlerischen Laufbahn
nicht ohne Konflikte abgegangen sein. Zum einen ist er als ältester Sohn
automatisch Haupt-Erbe des väterlichen Betriebes. Zum anderen wird bei
den herrschenden ärmlichen Verhältnissen im Elternhaus jede Arbeitskraft
gebraucht. Für »Fisematente«1 ist kein Platz, und Künstler werden wollen, das sind für den Rheinhessen »Fisematente«.
Die Mutter, ein zierliches Wesen, ist von Haus aus Näherin, keine
Bauersfrau. Sie fällt daher für die Feldarbeit weitgehend aus. Der Vater
ist früh krank, hat Gicht. Jean erzählt später, er habe dem Vater die
Schuhe zugebunden, weil dieser sich nicht habe bücken können.
Nach seiner Schulentlassung, als 15jähriger, arbeitet Jean acht Jahre im
väterlichen Betrieb, verliert somit acht Jahre der künstlerischen
Entwicklung.
Die Mettens leben, im Dorf zwar bekannt, so doch recht abgeschieden. Die
»Wirtschaft zur Schönen Aussicht« liegt außerhalb. Selten kommen Leute
aus dem Ort heraus. Natürlich kennt man sich, spricht miteinander nach
den Gottesdiensten, ist sich nicht gram oder fremd, doch man kommt sich
auch nicht allzu nahe. Lediglich die Nachbarschaft hat engeren Kontakt
zum Hause Metten. Denn »Nachbarschaft« heißt zu jener Zeit, ganz
ungezwungen im Hause des anderen zu verkehren.
Die Familie Metten lebt arbeitsam, bescheiden. Es sind keine
Feste-Feierer, und die drei Heranwachsenden machen auch nicht durch
engere Beziehungen zu anderen von sich reden. Nur Apollonia, die
Tochter, würde gerne heiraten. Doch ihr Auserwählter ist evangelisch.
Das gilt als der Hinderungsgrund schlechthin. So verbringt sie ein
selbstloses Nonnendasein im weltlichen Elternhaus. Brüder und Vater
arbeiten im Feld, wo auch schon mal etwas Neues ausprobiert wird. Obst-
und Spargelanbau etwa.
Der Umbruch kommt im Jahre 1907. Am 24. Juli stirbt Philipp Metten. Die
Geschwister, die alle gerne weiterführende Schulen besucht hätten,
müssen sich zusammenraufen. Jetzt fällt die Entscheidung: Jean geht auf
die Kunstgewerbeschule in Mainz. Andreas tritt zurück und übernimmt
19jährig den Betrieb.
Wie diese Entscheidung gefallen ist, läßt sich schwerlich ermitteln. Ob
Jean sich mit der Autorität des Älteren durchsetzt oder einfach sein
Talent von den Geschwistern als ausschlaggebend anerkannt wird? –
Gleichwie, die Geschwister leben mit der Mutter und arbeiten gemeinsam
für den Lebensunterhalt.
Start mit acht Jahren Verspätung – Erste Ausbildung in Mainz
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Die Kunstgewerbeschule und Handwerkerschule Mainz hat in Deutschland
einen ausgezeichneten Ruf. Sie untersteht dem Großherzoglichen
Ministerium des Innern, Abteilung für Landwirtschaft, Handel und
Gewerbe. Die Hauptlehrer sind Staatsdiener. Die Kunstgewerbeschule hat
zum Zweck, »den dem Handwerk, Gewerbe und Kunstgewerbe sich widmenden
Leuten für ihren Beruf nötigen Fachunterricht, auf die Praxis gestützt,
zu gewähren, und dieselben hierdurch zu tüchtigen Leuten ihres Berufes
heranzubilden«.
Die Fachschulen sind nach Möglichkeit mit Lehrwerkstätten verbunden.
»Der Schwerpunkt der künstlerischen Erziehung liegt neben der Einführung
in die Konstruktion, im Studium der Natur, ..., der Selbständigkeit der
Auffassung, der Entwicklung der schöpferischen Kraft des Schülers, der
Erhaltung und sorgfältigen Ausbildung der Eigenart seiner Befähigung.«
Dabei soll kein internationales Kunstgewerbe gepflegt werden.
Heimatkunst, Landes Art und Sitte, die Gegend, werden zum Studium
gemacht.
Zur Aufnahme in die Schule sind unter anderem erforderlich:
– Mindestalter von 15 Jahren,
– Zeugnis über sittlich gute Aufführung,
– Verpflichtung zum regelmäßigen Besuch,
– Nachweis der erforderlichen künstlerischen Befähigung.
Nichtbefähigte Schüler werden nicht aufgenommen. Am Schluß jeden
Schulhalbjahres finden Versetzungs- oder Übergangsprüfungen statt. Über
jeden Schüler wird im Gesamtlehrerkollegium in jedem Halbjahr
abgestimmt: »Minderwertige werden nicht versetzt und zum Austritt
veranlaßt.«
Da sich die Schule nicht nach den Unterrichtsmethoden eines Gymnasiums
oder einer Realschule richtet, versteht sie sich als »vorbereitende
Schule«, die von den Schülern meist schon im 18. Lebensjahr verlassen
wird, um weiterführende Schulen zu besuchen oder in Berufe einzutreten.
Als Jean Metten im Winterhalbjahr 1908 an der Kunstgewerbeschule
beginnt, steht er bereits im 24. Lebensjahr. An Schulgeld fallen pro
Halbjahr 50 Mark an. Material muß er zudem auf eigene Kosten besorgen.
Die kleine Wirtschaft in Nieder-Olm muß also nicht nur den Ausfall einer
weiteren Arbeitskraft hinnehmen. Vom ersten Tag der Betriebsübernahme
an ist Andreas Metten auch der Mäzen seines Bruders.
Zwar können unter bestimmten Voraussetzungen Schulgeld-Ermäßigungen oder
Stipendien erreicht werden. Doch ist nicht bekannt, ob Metten davon
profitiert. – Die finanzielle Belastung jedenfalls ist erheblich. Jean
Metten fährt täglich frühmorgens mit der Bahn nach Mainz. In zwei
Halbjahreskursen der Vorschule und sechs der Fachschulen erlangt er ein
fundiertes handwerkliches Rüstzeug.
Die Schüler werden angehalten, Arbeitsmappen zu führen, in denen
zumindest grob der Unterrichtsstoff nachvollzogen werden kann.
Gebrauchskunst – eben Gewerbekunst steht im Vordergrund: reichhaltige
Zierleisten, Ornamentik für Bücher und Werbebroschüren, Etiketten für
Gebrauchsgüter, Tier- und Märchenszenen für die so populären Grußkarten,
Ansichtszeichnungen, die als Illustrationen für Reiseführer und
Prospekte dienen, naturgetreue Tierzeichnungen zur Illustration von
Fachbüchern. All dies ist in Mettens Mappe ausgereift, unter dem Einfluß
des verschwenderischen Jugendstils; aber eben deshalb genauso
reproduzierbar als profilarme Massenware erhalten.
Doch neben diesen – zweifellos handwerkliches Können voraussetzenden –
Schularbeiten macht sich Metten an Landschaftszeichnungen, in Blei und
Tusche, die eigenständige, vom erlernten Schulbetrieb weit entfernte
Darstellungsmöglichkeiten aufzeigen. Im »Mombacher Sand« findet er seine
Motive. Und – natürlich auch jetzt schon – rund um seinen Heimatort
Nieder-Olm.
Dem Anspruch der Kunstgewerbeschule, die handwerklichen Grundlagen für
Gebrauchskunst zu schaffen und darüber hinaus »Heimatkunst, Landes Art
und Sitte« den Blick zu schärfen, wird der Schüler Metten gerecht. Er
ist an der Schule erfolgreich. Der Jahresbericht an den Großherzog für
die Jahre 1908/9-1909/10, seinen Anfängerjahren also, erwähnt Metten
unter den herausragenden Schülern. Bei der Weihnachtsaufgabe 1909/10,
gestellt von Direktor Kübel, »eine Figurengruppe in Silhouette,
Papierschnitt oder Schablonenarbeit«, erringt er einen von fünf ersten
Preisen. Auch der Bild-Anhang des Berichtes, in dem herausragende
Schülerarbeiten dem Großherzog präsentiert werden, zeigt einen
Linoleumschnitt von Jean Metten – ein Landschaftsmotiv.
Wahrscheinlich ist Metten im folgenden Jahresbericht als nun
fortgeschrittener Schüler erneut mit seinen Arbeiten hervorgetreten,
doch der Bericht für die Jahre 1910 bis 1912 ist nicht aufzufinden.
Ebensowenig wie Prüfungsunterlagen oder Zeugnisse aus dieser Zeit
vorhanden sind.
Im Heimatort Nieder-Olm wissen wenige, daß »der Metten« eine
künstlerische Laufbahn eingeschlagen hat. Und Jean selbst dürfte sich –
zumindest in den ersten Schuljahren – kaum über seinen weiteren
Werdegang im klaren sein. Als Gebrauchsgraphiker, Werbezeichner könnte
er sich wahrscheinlich ein Auskommen verschaffen. Aus dem Jahr 1912
datiert das einzige erhaltene Produkt seiner kunsthandwerklichen
Ausbildung: eine Erinnerungs-Urkunde an die Primiz von Jakob Seeger,
einem Nieder-Olmer Geistlichen.
Daß, wie Jean Metten es selbst ausdrückt, »die Kunst auf ihn wartet«, er
also eine weitere künstlerische Ausbildung absolvieren müsse, das
erkennt der Schüler während seiner Zeit an der Kunstgewerbeschule.
»Deren Enge und Unzulänglichkeit erkennt er für sich, als er zum ersten
Mal eine rechte Ausstellung graphischer Kunst sieht. Da macht er den
Sprung von der Mainzer Kunstgewerbeschule zu der Leipziger Akademie«,
schreibt später sein Freund, der Verleger und Dichter Richard Knies.
Der Entschluß, so dringend notwendig er für Jean Metten ist, wird nicht
von ihm allein gefällt. Denn der Verzicht auf Broterwerb als
Gebrauchskünstler und die Entscheidung zu einer mehrjährigen weiteren
Ausbildung müssen finanziell abgesichert sein. Einmal mehr muß also die
Familie – in erster Linie der Bruder Andreas – den Wunsch Jean Mettens
mittragen.
Das Verhältnis der Brüder ist – trotz aller materiellen Schwierigkeiten –
ideal für Jeans Werdegang. Die beiden ergänzen sich. Nur vordergründig
ist Andreas der Mäzen und Jean der Kunstschaffende. Gemeinsam leben sie
auf einer Bildungsstufe, die weit über den Horizont eines
rheinhessischen Bauern hinausgeht. Sie bilden sich literarisch und
politisch. Geprägt vom Katholizismus verneinen sie dennoch nicht die
aufbrechende Moderne.
Die Zeitschrift »Hochland«, 1903 gegründet, ist seit spätestens 1910 im
Hause Metten Standard-Lektüre. Die katholische Monatsschrift versucht
mit Erfolg, den nur noch als »Bauernreligion« darniederliegenden
Katholizismus mit dem Zeitgeist, der Wissenschaft, der Literatur zu
vereinbaren. Nicht, um die Religion den modernen Zeiten anzupassen.
Sondern, um das Spannungsverhältnis von Glaube und Wissen aufzulockern.
Der Kunst, hier besonders der Literatur, kommt dabei eine
Schlüsselstellung zu: »Nur die Erziehung des Menschen zu ästhetischem
Empfinden, zum Verständnis und zur Erkenntnis großer und echter
Literatur, konnte Ausweg und Mittel zur Lösung der geistigen Krise sein;
natürlich mußte dies im Rahmen einer allgemeinen Kulturerneuerung
geschehen, die wiederum nur durch religiöse Vertiefung geleistet werden
konnte«, faßt der Gründer von »Hochland«, Carl Muth, zusammen.
Die Metten-Brüder verfolgen diese auf der katholischen Religion
basierende, offensive Geisteshaltung mit innerem Engagement, tauschen
sich darüber aus. Und was oben über Literatur zitiert ist, mag von Jean
Metten durchaus für die bildende Kunst übernommen worden sein.
Die Brüder befruchten einander in ihren Diskussionen. Andreas, der
selbst als Land- und Schankwirt kaum aus seinem engen Betrieb
herauskommt, profitiert davon, daß Jean sich der Kunst widmet und somit
kulturelles Leben in die »Wirtschaft zur Schönen Aussicht« trägt.
So schmerzt es Andreas Metten nur finanziell, daß Jean mit seinem
Studium in Leipzig lediglich Kosten verursacht und als Arbeitskraft in
der Landwirtschaft endgültig ausfällt. Andreas gibt gerne: als Christ,
als Bruder und als Mensch, der durch Jeans Schaffen auf seine Weise
gewinnt.
Ohne Illusion in Leipzig – Kein Freund »moderner Kunst«
⇧
Die Leipziger Akademie wurde 1764 gegründet. Der wachsende Buchhandel
begünstigte die Entwicklung der Universität. Bevorzugt wurden die
graphischen Künste, mit künsterlischem und technischem Unterricht in den
verschiedenen Sparten. Dazu wurden Hilfswissenschaften wie Anatomie,
Kunstgeschichte und Archäologie gelehrt.
1899 erhielt die zwischenzeitlich Kunstgewerbeschule bezeichnete
Akademie den Namen »Königliche Akademie für graphische Künste und
Buchgewerbe zu Leipzig«.
Konsequent werden seither graphische und buchgewerbliche Künste betont:
»Der gesamte Unterricht zielt darauf hin, die Herstellung des Buches und
des gedruckten Einzelbildes so zu lehren, daß das Resultat in
ästhetischer und technischer Beziehung den höchsten Anforderungen
entspricht. Brauchbare Kräfte für die graphische und buchgewerbliche
Industrie zu bilden, darin erkennt die Akademie heute ihre Hauptaufgabe.
Daneben wird freilich dafür gesorgt, daß auch der graphische Künstler,
also der Radierer, auf seine Rechnung kommt.«
Die Leipziger Akademie ist nicht nur als einzige staatliche Institution
ihrer Art im Deutschen Reich führend. Sie genießt Weltruf.
Als sich Jean Metten am 7. Oktober 1912 anmeldet, sind seine
Berufsziele: Graphiker und Buchgewerbezeichner; und das, da er ganz
selbstbewußt seinen Beruf als »Zeichner« angibt.
Doch Illusionen kommen erst gar nicht auf. Die Akademie selbst weist
darauf hin: »Der künstlerische Beruf ist, wenn nicht hohe und starke
Begabung da ist, wirtschaftlich gefährlich und er beansprucht in der
Regel ein Studium von 7 bis 10 Jahren zumeist ohne Einnahmegelegenheit
... Im allgemeinen kann man sagen, daß für diejenigen Studierenden, die
nicht ein Vermögen haben und in der Schule kein Interesse und keine
Geschicklichkeit für gewerbliche Arbeiten zeigen, der Künstlerberuf ein
großes Risiko ist ... Auch künstlerischen Begabungen aber, die freie
selbständige Produktion als Lebensberuf erstreben (eigene Verlagswerke,
Künstlergraphik, Originalzeichner) und auch hier schöpferisch fruchtbar
werden, müssen, wenn sie sich durchbringen wollen, erhebliche Geldmittel
besitzen ...«
Der junge Mann aus dem bäuerlichen Nieder-Olm, der da in der
Moritzstraße 8 ein Zimmer nimmt, verfügt nicht über erhebliche
Geldmittel. Er wohnt auf einem Flur mit dem Markthelfer Karl Przesang
und dem Lagerdiener August Schwabe – eine Nobeladresse ist das nicht.
Dennoch müssen Mutter und Geschwister daheim einiges aufwenden, um das
Studium zu finanzieren. Denn Studenten geht es zu jener Zeit allgemein
nicht gut, Leipzig ist kein billiges Pflaster. Doch die Bescheidenheit
und Anspruchslosigkeit Mettens hilft ihm leicht über all das hinweg. Er
lernt Zeichnen und Entwerfen nach dem Stilleben, Schriftschreiben,
Anatomie, Pflanzenkunde, Tierkunde, Radieren, Ätzen, Holzschneiden und
Drucken. Das ist Mettens Stundenplan. Seine Noten weisen durchgehend
gute Leistungen, sehr guten Fleiß und Betragen aus. Einzig in Bau- und
Zierformenlehre erreicht er das Klassenziel nicht. Im Zeugnis findet
sich der Vermerk »Wiederholen«. Doch Metten wiederholt nicht. Offenbar
ist er mit dem Lehrer nicht klargekommen.
Auch der Anatomie-Unterricht macht ihm keinen Spaß. Er muß beim Sezieren
von Leichen dabei sein und macht das nur widerwillig mit.
Sein zweites Jahr in Leipzig bringt ihm in den Fächern »Bau des
Menschen«, »Holzzeichnen, -schneiden und -drucken« sowie »Radieren,
Ätzen und Drucken« erneut gute Benotungen.
Als sich im Winter 1913 für einen Ergänzungskurs zum Holzschneiden 22
Schüler anmelden, jedoch nur 12 zugelassen werden können, ist Metten
unter den Auserwählten. Mit einem Mitschüler wird er sogar als besonders
talentiert hervorgehoben.
Trotz der bescheidenen Verhältnisse, mit denen sich Metten arrangieren
muß: die Zeit in Leipzig gefällt ihm. Er richtet sich ein und macht
Erfahrungen. Über Dinge, von denen er sicher schon wußte, die sich beim
Miterleben jedoch besonders einprägen. Er erfährt, daß Begüterte ihren
»Doktor« und ihr Examen kaufen können, entdeckt eine Welt voller Lug und
Trug. Besonders schlagende Verbindungen haßt er: »Daß es Menschen als
Sport ansehen können, sich die Fresse zu verhauen und nachher stolz
darauf sind.«
Er geißelt Zustände, wie sie in »Simpl«-Witzen2
karikiert werden. Professor: »Scheußlich, dieser junge Mann.« – »Ja,
der ist in einer schlagenden Verbindung.« »Ach so, schneidiger junger
Mann, das.«
Künstlerisch aber geht Jean Metten seinen Weg. Es entstehen prächtige
Holzschnitte, gute Akte – auch als Radierungen. Seine Themen sind
vielfältig, aber stets weltlich. Die »Leipziger Messe« beispielsweise
läßt ihn Radierungen machen, die ahnen lassen, daß alle handwerklichen
Voraussetzungen zum großen Künstler gelegt sind. Doch so vielfältig und
ansatzreich die schulischen Werke sind – sie werden auf sein späteres
Schaffen keinen Einfluß haben.
Auch moderne Kunstbestrebungen gehen an ihm vorbei. Später erzählt er:
»Ich geh' durch Leipzig und bleib da auf einmal an einem Laden stehen.
Da seh' ich ›moderne Kunst‹. Dann werd' ich in meinem Kurs mit 'ner Frau
bekannt. Und diese Frau war diejenige, die in Leipzig schon ausgestellt
hatte. Die hatte die ›moderne Auffassung‹. Jedenfalls lern' ich die
näher kennen. Und warum war das eine ›moderne Künstlerin‹? Weil sie
nicht malen konnte. Das war diejenige von uns, die nicht malen konnte.
Und die hat ›moderne Kunst‹ gemacht.«
Diese Erzählung ist eines der wenigen Zeugnisse von Metten-Äußerungen
über Kunst. Nur selten redet er über das Schaffen anderer. Doch ist
vieles mit seinem Kunst-Verständnis nicht vereinbar. Er, der religiöse
Mensch, sieht Kunst als Hymne an die Schöpfung, als Gutes, Wahres,
Schönes an. Er weigert sich, das Verwerfliche, vor dem er als denkender
und erfahrener Mensch nicht die Augen verschließt, in seiner Kunst zu
verarbeiten. Mag er soziale Mißstände sehen, darüber reflektieren,
philosophieren, in Worten nach Änderungen verlangen. – Den Bettler auf
der Straße stellt er nicht dar. Er versteht seine Kunst nicht als Mittel
zum Anklagen oder Umformen. Sie soll loben. Zeitgenössische
Kunstströmungen gehen an ihm spurlos vorbei. Weil Metten so
zurückhaltend ist, müssen wir auf indirekte Quellen zurückgreifen, um
sein Urteil zu erfahren.
So schreibt zum Beispiel ein guter Freund in späteren Jahren (1951)
unwidersprochen – anscheinend mit Wissen um die Einigkeit mit dem
Adressaten – über eine Max-Beckmann-Ausstellung: »Diese Ausstellung ist
beleidigend für die menschliche Würde und die gottgeschaffene Natur. Im
Handwerklichen miserabel, in den malerischen Motiven Schläge ins
Gesicht, von Kunst nicht eine Spur, im Ästhetischen tief unter jeder
Kultur.«
Zehn Jahre später derselbe Freund: »Hier wird in einer Ausstellung der
Akademie der Künste der englische Bildhauer Henry Moore gefeiert. Wir
sahen uns die Ausstellung an, können aber den Lobeshymnen gewisser
Kunstkritiker nicht folgen.«
Und 1966 heißt es in einem Brief einer Bekannten an Metten: »Mir geht es
wie Ihnen. Ich habe mir schon öfters die neuen Kunstformen erklären
lassen, von Leuten, die lange studiert haben. Aber trotzdem muß ich
vieles ablehnen ... Ich sehe weder Kunst, Geschick, Geschmack oder
Schönheit in diesen Sachen. Es gibt natürlich Ausnahmen, und vielleicht
war es früher genauso, nur hatten die Dilettanten weniger Zeit und Geld,
es war schwieriger in den alten Artformen, den Kennern etwas
vorzumachen.«
Im gleichen Jahr schreibt Metten selbst: »Op Art' erscheint auch in
Deutschland. Gerade schrieb mir ein Historiker aus Berlin. Er hätte eine
Ausstellung gesehen von einem deutschen Maler, der in Norwegen seit
längeren Jahren wohnt, mit auf Metallplatten gebrachten Scherben,
Korken, Draht, Industrieabfällen und Blechstücken. Ein ›Bild‹ von 3
Metern Höhe, 11 Metern Länge sei dabeigewesen. Da kann ich nicht mit.«
Auch 50 Jahre früher kann Metten mit anderen Kunstauffassungen nicht
mit. Er setzt sich mit ihnen auch theoretisch nicht auseinander. Er will
sich nur in Techniken vervollkommnen. Die Professoren Kolb (Radierung)
und Bossert (Holzschnitt) sind herausragende Lehrer, die freilich sein
späteres Werk nicht beeinflussen. Denn das ist fest an die Heimat
gebunden.
Ein reger Briefwechsel läßt die intensive Verbindung nach Hause nie
abbrechen. Er empfindet die Trennung von der rheinhessischen Heimat
positiv. In Leipzig lernt er Nieder-Olm mit anderen Augen sehen. Nicht,
weil es ihm zu eng oder zu provinziell ist. Dazu verbindet ihn zu viel
mit dem Ort.
Trotzdem muß er früher zurück als ihm lieb ist.
Kanonen statt Kunst – Ein Pazifist als Soldat
⇧
Als Jean Metten am 15. Juli 1914 von der Akademie abgeht, ist der Erste
Weltkrieg längst unausweichlich. Zum allgemeinen Säbelrasseln waren am
28. Juni die Schüsse von Sarajewo gefallen. Genau einen Monat später
erklärt Österreich-Ungarn den Krieg an Serbien. Am 1. August macht
Deutschland mobil: Kriegserklärung an Rußland, zwei Tage später an
Frankreich. Gleichzeitig marschieren deutsche Truppen in Belgien ein.
Jean Metten, der vor seinem Studium vom Wehrdienst befreit war,
verbringt die ersten Kriegsmonate in Nieder-Olm. Zum Krieg hatten die
Mettens schon vor 1914/18 eine eindeutige Haltung. Für die Familie
bedeutet es ein Verbrechen der Menschheit, überhaupt Krieg zu führen.
Für den franzosenfreundlichen Andreas noch mehr, als für den in allem
gemäßigteren Jean, ist alles Militärische mit Preußentum gleichzusetzen.
Und wenn nach eigenen Kriegserlebnissen später von »unbändigem Haß« auf
Militär und Preußen gesprochen wird, so herrscht vor 1914 zumindest
Ablehnung. Traditionell gewachsen in Rheinhessen, geschürt schon durch
den Deutschen Krieg 1866.
Die Haltung ist in Wilhelm Holzamers Roman »Vor Jahr und Tag«
nachzuvollziehen: »Wenn's uns alle kost' – alle miteinander – preußisch
werden wir nit, lieber österreichisch! Oder lieber wieder französisch –
und wenn das nit sein kann: es lebe die Republik!« – Die innere und
äußere Freiheit ist dem Rheinhessen zu teuer, als daß er sich mit
Säbelrasseln, dem System von Befehl und Gehorsam anfreunden kann. Das
militaristische Preußen wird deshalb verabscheut. Mit den Franzosen
hingegen verbindet die Rheinhessen eine kaum erklärbare Sympathie. Bei
Metten äußert sie sich darin, daß er früh seinen Vornamen »Johannes« in
»Jean« abändert. Dies geschieht schon vor seiner Zeit in Leipzig, auch
wenn er offizielle Dokumente manchesmal mit Johannes unterschreibt.
Wahrscheinlich wurde Metten schon als Knabe »Jean« gerufen – eine im
rheinhessischen Sprachgebrauch durchaus übliche frankophone Verkürzung.
Lehnt Metten Krieg schon grundsätzlich ab, so ist er mit den deutschen
Kriegszielen erst recht nicht einverstanden. Im Juni 1916, der Krieg
tobt seit zwei Jahren, er selbst ist schon 15 Monate im Feld, schreibt
Jean nach Hause: »Freier Mann im für die Freiheit der Meere kämpfenden
Deutschland. – Könnte bald ein Jugend-Simplwitz werden.«
Daß er alles andere als ein Verfechter des Deutschen Kaiserreiches ist,
sondern gerade die Mißstände im Auge hat, zeigt ein früher Brief aus dem
russischen Felde, in dem Metten unverhohlen Sympathie für die
gesellschaftlichen Entwicklungen in Rußland hegt:
24/10/15 »Liebe Mutter und Geschwister.
Der Abwechslung halber mal einen ›russischen Briefbogen‹, d. h. ein
Blatt aus einem russischen Klassenbuch oder so was ähnlichem. Liegen
nämlich in einer Schule, wie ihr ja schon wißt. Und da steht uns die
ganze Bibliothek zur Verfügung, resp. zur Benutzung – doch zum Lesen
wird wohl wenig Gebrauch davon gemacht werden. Ob es wohl recht ist? Was
ist im Krieg Recht? Unendliche Werte gehen verloren, worüber sich
niemand aufregt. – Heute mal ganz dienstfrei, wegen Jahrhundertfeier.
Durchstöberte die russische Bibliothek, die größtenteils aus Lehrbüchern
besteht. Überhaupt scheint Rußland sehr viel Wert auf neue meist jedoch
erst in letzter Zeit entstandene Schulen zu legen. – Wie man 1870
sagte, der deutsche Schulmeister habe geholfen, den Krieg zu gewinnen,
so glaube ich bestimmt, würde es der russische Lehrer, der den Krieg in
zehn Jahren gewonnen hätte. Im kleinsten Hüttchen Schreibhefte – auch
überall Zeitungen, Zeitschriften, die deuten, daß Rußland in der
Entwicklung begriffen ist. – Die Lehrbücher sind den Illustrationen nach
sehr geschickt zusammengestellt. Doch alle neueren Datums. Viele ähneln
ganz den unseren. Über manche war ich ganz erstaunt. Aber auch sozial
soll die Schule wirken – deren große Bedeutung Rußland erkannt zu haben
scheint. Habe eben neben mir ein Lesebuch mit Illustrationen. Das
Deckenbild kündet für das im Klassenkampf das größte leistende Rußland
gerade ein neues Morgenrot. Entstanden ist das Buch 1914. Es stellt eine
Dorfstraße dar, wo aus der Schule die Jugend heimkehrt. Auf dem Felde
pflügen, säen und arbeiten Landleute. Im Vordergrund – ein großes
Programm bedeutend – das Adelskind – das Proletenkind – lesend im
Schulbuche, das das Bürgerkind in Händen hält. In Charakter gut
dargestellt, Rußland war im Werden begriffen – und nun diese Störung
...«
Es ist eine Ironie des Schicksals, daß Jean Metten nach Osten muß, als
er neun Monate nach Kriegsbeginn einrückt. Er wird am 6. April 1915
eingezogen. Als Rekrut teilt man ihn dem Armierungsbataillon 45 zu.
Neunzehn Tage nach der Einberufung datiert sein erster erhaltener Brief
aus dem Feld: »Spiergsten, Armierungsbatl. 45, 4. Komp. 5. Zug.«
»Liebe Mutter und Geschwister.
Endlich mal einen ruhigeren Sonntag seit unserer Einrückung. Wie ging
doch alles so schnell! Einkleidung und Abmarsch! – Die Ausrüstung ist
vollständig neu, doch scheint der Stoff nicht besonders gut zu sein.
Heute früh hatten wir um 1/2 9 Uhr Feldgottesdienst mit Vereidigung. Der
Geistliche (prot.) ließ zuerst ›Großer Gott‹ singen, hielt dann
Predigt, besonders die treue Hoffnung des Eides betonend – Mit Vater
unser. Schluß. Nun danket all Gott.
Als wir nach langer Fahrt am Mittwoch früh (die Nacht über verbrachten
wir im Zuge, der an irgendeiner Stelle hielt) aufwachten, standen wir
mitten in einem Schlachtfelde. – Früh um 4 Uhr ist hier schon heller
Tag, 8 Uhr abends dunkel. Granatlöcher rechts und links des Bahndammes,
so große, wie wenn man einen Baum ausmacht. Granatsplitter,
Schrapnellkugeln, zerrissene Feldtelephondrähte, Schützengräben,
Laufgräben, zerstörte Häuser, Häuser und Ortschaften. Wir stiegen aus
und durchstöberten das fast vollständig zerstörte Possesseren (6.-7.
Februar wurde hier gekämpft, auch schon mal im September). Hier ein
einsames Soldatengrab, dort wieder, da zwei mit 7 Leuten vom 129er. Man
riecht die furchtbare Wirkung der modernen Schlacht überall. Bäume, die
als Richtpunkte dienen könnten, wurden abgesägt. So sind ganze
Straßenalleen gefällt.«
Die ersten Monate seiner Soldatenzeit verbringt Metten mit
Instandsetzungsarbeiten. Von den mörderischen Schlachten sieht er die
schrecklichen Spuren. Er selbst muß jedoch nicht in den Kampf. Dennoch
versucht er, wieder nach Hause zu kommen. Genügsam wie er ist, klagt er
nicht über Verpflegung oder Arbeit. Aber wenn er sich schon fragt, warum
überhaupt Krieg geführt wird, so sieht er erst recht nicht ein, warum
er selbst daran teilnehmen muß. Er trägt noch keine drei Monate die
Uniform, als er der Familie schreibt, wie er zumindest zeitweise wieder
heim könnte:
(30. 6. 15) » ... Auf Reklamation könnte ich vielleicht einen 14tägigen
Urlaub erhalten. Muß Landwirtschaft und Weinbau betont werden, besonders
Bekämpfung der Rebschädlinge und von der Bürgermeisterei beglaubigt,
daß es zur Feldarbeit sei, zum Heumachen ... Es ist noch besser, wenn
die Bürgermeisterei das Ganze macht, stempelt, etc. – Aktenbogen und
Umschlag – und direkt an die Truppe schickt. Aber so schnell wie
möglich, es geht immer eine Zeit drauf ...«
Obwohl sich die Mutter sofort um die Angelegenheit kümmert – schon am 10. 7. 1915 schickt Jean eine Karte mit knappem Text:
»Liebe Mutter und Geschwister. Ihr dürft euch keine große Hoffnung
machen auf Urlaub, so leicht geht das doch nicht. Bis auf weiteres im
Brief. Mit vielen Grüßen Jean.«
Mettens Soldbuch weist aus, daß er erst 1916 vom 30. August bis 12.
September Urlaub erhält, um in der heimischen Landwirtschaft zu helfen.
Ein zweiter Urlaub wird ihm schließlich an Weihnachten 1917, vom 13. bis
25. Dezember gewährt.
Der Schriftwechsel zwischen Jean und der Familie ist während der
Kriegsjahre sehr intensiv – solange Postbeförderung und Zensur dies
möglich machen. Aus Nieder-Olm wird Jean mit Lebensmitteln versorgt, die
Pakete werden wie die Briefe numeriert, und Jean kann so bestätigen,
was tatsächlich ankommt. Typisch für die Kriegszeit daher die Zeilen:
»Nun also alle Sendungen erhalten. Briefe, Karte von Johanni, Paketchen mit Wurst und Namenstagspaketchen.« (30. 6. 15)
Fünf Monate bleibt Jean in Spiergsten, dann geht's weiter Richtung
Osten. Seine ausführlichen Briefe dokumentieren nicht nur den täglichen
Ablauf. Seine Beobachtungsgabe, seine künstlerische Sicht für die Natur,
seine bäuerliche Kenntnis der Kulturlandschaft und sein sensibles
Gespür für stimmungsvolle Einzelheiten geben den Briefen fast
literarischen Wert.
Jeans Aufenthaltsort wechselt ständig. Sein Truppenteil wird offenbar
gefechtsbereit in Reserve gehalten. In direkte Kampfhandlungen greift er
nicht ein. Seine Sorge gilt dem Bruder Andreas daheim, der nun auch
gemustert wird. Zwar versucht Andreas wegen des landwirtschaftlichen
Betriebes der Einberufung zu entgehen, doch gibt ihm Jean kaum Chancen
und daher Ratschläge. »Wenn er einrücken muß, woran ich nicht zweifle,
so soll sein Hauptaugenmerk sein: gute Stiefel.«
Jeans Überzeugung, daß Andreas einrücken muß, nährt sich aus seinen
eigenen Erfahrungen: »Ich glaube, Rußland wird uns noch viel zu schaffen
machen. – Wenn man glaubt, daß Rußland hungert, so täuscht man sich
auch.« (24. 10. 15)
Jean zweifelt nicht nur am Sinn des Krieges, sondern auch am militärischen Erfolg.
Künstlerisch kann er sich kaum betätigen. Einige Skizzen, ein
Holzschnitt, datiert »Rußland 1915«, betitelt »Chaos« – es zeigt ein
normales Landschaftsbild. Mehr entsteht in dieser Zeit nicht. Seine
Motive wählt Metten wie früher aus der Landschaft, skizziert Gebäude. –
All das, was er an Zerstörung, an Mahnendem erlebt, verarbeitet er nicht
künstlerisch. So, als weigere er sich, die durch Menschenhand
verkommene Welt, in der er jetzt sogar Soldat sein muß, auch in seine
Kunst eindringen zu lassen. Obwohl es ihm von seinen handwerklichen
Fähigkeiten her ein leichtes wäre, hier anzuklagen, gemäß seiner
Weltanschauung, Kunst einzusetzen. Tote, Verwundete, Gefangene, Gräber,
zerschossene Dörfer, zerstörte Kirchen nimmt Metten wahr, berichtet
darüber nach Hause und leidet darunter. Doch er verarbeitet es nicht
künstlerisch.
Anfang Dezember kommt die gute Nachricht. Seine Einheit wird verlegt,
wahrscheinlich nach Mainz, wie er ankündigt. Tatsächlich geht es zurück
nach Darmstadt zur Ausbildung, als Fahrer vom Sattel und Bock. Er
wechselt mehrfach die Einheit, bevor es an die Westfront geht. Als
Reiter und Fahrer ist er Meldesoldat, eine Karte vom 28. 11. 16 hat den
Absender »Fahrer Metten Brützen 25. Division 18. Armee«.
Von nun an steckt Metten da, »wo die Luft am dicksten ist«. An der
Front. Sein Militärpaß liest sich wie ein Kriegstagebuch für die
französisch-deutsche Front dieser Zeit:
21. 2.-26. 4. 1916 Schlacht bei Verdun
17. 5.-9. 9. 1916 Kämpfe an der Aisne
13. 9.-1. 10. 1916 Schlacht an der Somme
7. 10. -9. 11. 1916 Kämpfe zwischen Maas und Mosel
21. 11.-26. 11. 1916 Schlacht an der Somme
27. 11.16-10. 2. 1917 Stellungskämpfe an der Somme
Seine Führung wird mit »gut« bezeichnet, Strafen erhält er keine. Der
überzeugte Pazifist ist nicht der Mann, durch Ungehorsam oder
Befehlsverweigerung seinen Überzeugungen auch auf Kosten des Lebens
Ausdruck zu verleihen. Er versieht seinen Dienst, hoffend und betend.
Nur eines hält ihn aufrecht: sein tiefer christlicher Glaube. Er wirft
Gott nicht vor, daß Krieg geführt wird. Das hält er für von Menschen
verbrochenes Unrecht. Gott und die Religion sind seine Stützen. Das wird
in den wenigen Briefen deutlich, die trotz Postsperre durchkommen. Ein
Kamerad auf Heimaturlaub hat folgendes Schreiben am 3. Mai 1916
aufgegeben:
» ... Eine elende Postsperre schon wieder seit Ostern. Man könnte
glauben, es mit lauter Vaterlandsverrätern zu tun zu haben. – Oder wird
was anderes befürchtet? Wie Hohn klingt es mir immer, wenn unsere
Zeitungen so manches aus Feindesländern bringen. Nun, es muß halt was
gebracht werden. Wird Verdun unser werden? Alle Bierbankpolitiker daheim
und auch andere, denen es zu langsam geht, möchte ich nur einmal den
Gang zu und von den Schützengräben im Granatfeuer gehen lassen – ich
glaube 90 % davon würden nicht nur auf Verdun, sondern auf halb
Deutschland verzichten ... Die Nerven sind bei vielen erschüttert ... Es
ist alles so furchtbar kriegsmüde. Ich halte die Lage für ziemlich
ernst. ... Heute Osterbeichte und Kommunion gehalten. Sonntag hatten wir
schon das Glück, heilige Messe zu haben. – Die dritte, seit ich im
Westen bin. Gruß Jean.«
An Urlaub ist für ihn nicht zu denken. Im Gegenteil: Zu Hause hat der
Bruder Andreas immer mehr Probleme mit der Zurückstellung. Mutter und
Schwester leben mit der ständigen Bedrohung, allein die Landwirtschaft
bewältigen und zwei im Soldaten im Felde versorgen zu müssen. Jean gibt
Anweisungen von der Front und schreibt in den wenigen längeren Briefen
trotz Zensur recht offen, wie er die Lage beurteilt (14. 6. 1916): »Kann
aus verschiedenen Gründen nicht alles schreiben. Bald gibt es nur noch
vorgedruckte Formulare zum ausfüllen ... Zeitungen von Samstag und
Dienstag erhalten. Fast all' da draußen ekelt es förmlich an, wenn
unsere Zeitungen bei Erfolgen so lobhudeln, auch noch auffordern, die
Ständ' zu flaggen. Ich denke mal Ernst und Zurückhaltung sei jetzt doch
endlich am Platze.«
Über die wahre Kriegslage ist Jean auch an der Front unterrichtet. Was
Kameraden nicht mitteilen, erfährt er aus der Zeitung. Als erfahrener
Leser kann Metten die Wahrheit aus der Mischung von Lobhudelei,
Durchhalteparolen und Erfolgsmeldungen herausfiltern.
Fast fatalistisch in dieser Zeit ist Jeans Glaube an Gottes Fügung.
Dennoch macht sich bei ihm Wut breit. Wut über Menschen, die im großen
für den Krieg verantwortlich sind und Menschen, die im kleinen den Krieg
mißbrauchen. So erzählt er später, daß er sich hervorragend in
Frankreich mit der Zivilbevölkerung verstand, »daß diese Menschen auch
Not litten, und daß es auf der anderen Seite auch Drecksäcke gegeben
habe, die die Notlage der Bevölkerung ausnutzten – insbesondere der
Frauen. Daß einer also 'n Laibchen Brot schmu gemacht hat, ist abgehauen
und hat zugesehen, daß er 'ne Französin dafür kriegte«.
Die Briefe aus dem Feld beschreiben die Situation umfassend. Metten
zeigt sich als feiner Beobachter. Nicht als blanker Chronist, sondern
als denkender, die Beobachtungen verknüpfender und Schlüsse ziehender
Mensch. Bezeichnend sind die Daten der Briefe, sie sind an kirchlichen
Festtagen wie Allerseelen und Weihnachten 1916 geschrieben. Bis auf ein
zweizeiliges Schreiben im Juli 1917 sind sie die letzten Lebenszeichen
Jeans für die nächsten elf Monate. Am 10. Februar 1917 wird er zur
Fuhrpark-Kolonne 710 versetzt. Und wieder läßt der nüchterne Abriß im
Militärpaß ahnen, was er erlebt:
10. 2.-18. 3. 1917 Stellungskämpfe an der Somme
16. 3.-20. 6. 1917 Kämpfe an der Siegfriedfront
21. 6.-19. 10. 1917 Kämpfe in der Siegfried-Stellung
11. 10.-1. 12. 1917 Schlacht in Flandern
8. 12. 1917 Kämpfe in der Siegfried-Stellung
Der Mensch und Künstler leidet. Wenige Skizzen, ein Aquarell sind
erhalten. Viel mehr dürfte Jean Metten in dieser Zeit nicht gestaltet
haben. Wie kann man sich auch um Kunst kümmern, Erhabenem zum Wohle
Gottes nachhängen, wenn rundherum die Welt von Menschen in Scherben
gehauen wird? Doch die schrecklichen Erlebnisse können dem tief
verwurzelten Glauben nichts anhaben. Der Künstler in ihm wird allerdings
in den Grundfesten erschüttert.
Zunächst aber denkt Jean Metten ans Praktische. An die Familie, die nahe
Zukunft, das Deutschland nach dem Krieg. Denn die Nachrichten von den
Geschehnissen in Berlin gelangen an die Front. Mettens ablehnende
Haltung gegen die angeschlagene Regierung wird offenbar. Er hat genügend
Informationen, um zu erkennen, daß seine politischen Ansichten und
Voraussichten zu Beginn des Krieges richtig waren und daß sein Mißtrauen
gegen die eigene Staatsführung berechtigt war.
Der wache Verstand Mettens sieht klar die politischen Notwendigkeiten.
Er erkennt auch, warum sie nicht verfolgt werden. Statt internationalem
Frieden – alldeutscher Größenwahn, den der kleine Mann im Felde
auszubaden hat. Bei aller Klarsicht und aller Deutlichkeit in Äußerungen
an die Familie tritt Metten mit seinen Überzeugungen nicht nach außen.
Er leidet und duldet.
Erst spät erfährt er aus der Heimat, daß sein Bruder Andreas doch
eingezogen wurde. Aus dem Felde gibt er Anweisungen für die
Zurückgebliebenen, Schwester und Mutter: »Daß ihr gleich
Wirtschaftsschluß gemacht habt, war das Beste ... Halte es für das
Beste, die Äcker, die nicht eingesät sind, einfach brachliegen zu
lassen. Nur Kartoffeln und Dickworz fürs Kühlein, das ihr behaltet.«
(16. 4. 18)
Seine Anmerkungen gelten jedoch nicht nur der Sorge um die
Daheimgebliebenen. Erneut mischen sich politische Untertöne ein. Sein
Klassenbewußtsein als Bauer, als Mann aus dem Volk dringt ebenso durch,
wie politisch-wirtschaftliche Weitsicht, wenn er an das »Danach« denkt:
»Ihr dürft nicht alles in Schuß halten, etwas muß liegen bleiben – sonst
geht es ja auch so. Das ist ja der Fehler der Bauernweiber – die
Industriellen markieren es besser – stellen einfach still ... Las dieser
Tage Inschriften französischer Infanteristen ›a bas la guerre‹ –
(nieder mit dem Krieg) – wer nur hat Interesse dran, an Fortsetzung?«
(2. 5. 18)
»Legt einmal einiges Papiergeld in guten Büchern an. Hätte gern einige
Künstlerbiographien, besonders deutsche Gothiker, so ähnlich wie das von
Dürer, das ich habe.« (5. 5. 18)
»Und nur keinen Urlaub für mich einreichen. Denn es sind – zumal jetzt
immer noch Urlaubssperre ist – manche Leute seit einem Jahr nicht in
Urlaub gewesen, und alles Bauern. Zudem habe ich auch gar keine Lust,
etwas zu arbeiten. Es ist ja doch nur alles für eine bestimmte Klasse.
Ich meine, wem bald die Augen nicht aufgehen, der sieht nichts oder will
nichts sehen – den Soldaten fällt es auf, daß die Standesamtsberichte
nicht mehr in den Zeitungen stehen. Sie sagen, man soll nicht wissen,
wieviel schon verhungern. Was sind die Soldaten verbittert.« (14. 5. 18)
Bei all dem Elend und der Ahnung von drohendem, noch größerem Unheil
wankt Metten in seinem Glauben kein bißchen. Im Gegenteil, er sieht den
mangelnden Glauben und die unkorrekte Lebensführung auch der Kleriker
als Hauptursachen für den Verfall und Hauptgefahren für die Zukunft:
20. 5. 18 Pfingstsonntag.
»Liebe Mutter und Geschwister. Ohne irgendwelche kirchliche Feier
Pfingsten gekommen, wird auch so gehen. Weiß nicht, woran das liegt, daß
so wenig für das Religiöse gesorgt wird. Glaubenlos und
religionsfeindlich wird die Masse einstens zurückkommen. Ist es
Pfingsten, um später ablenken zu können? Dem Haß einen neuen Weg zu
zeigen? Die ›tote Hand‹ das Vermögen der Kirche, es wird herhalten
müssen, den Staatssäckel zu füllen, die Steuerlast abzuwälzen – dazu
wird es überwältigende Mehrheit geben. Ob die Diener der Kirche, die
jetzt so sehr im Fahrwasser des Staates schwimmen, sich dadurch ihr
Anrecht auf die Futterkrippe des Staates zu sichern glauben? Das wird
ihnen übel vermerkt werden.«
Jean Metten wartet wie viele auf das Ende des Krieges. Seine
Friedenssehnsucht, die er vom ersten Kriegstage an hatte, paart sich mit
wachsender Hoffnungslosigkeit.
Der 20. August 1918 bringt für Metten das Ende seines Daseins an der
Front. Mit Ruhr-Verdacht wird er ins Kriegslazarett eingeliefert. Seine
Briefe nach Hause lassen ihn unverändert scheinen. Er analysiert das
politische Geschehen und teilt der Familie nichts von seinen inneren
Zweifeln mit. Wenn er auch Pläne für das Leben nach dem Zusammenbruch
macht, Anweisungen gibt, wie Inflation und Wertverlust aufgefangen
werden können, wenn er auch Gottes Beistand herbeisehnt, um die Opfer
gering zu halten, so erzählt er nicht, was in ihm selbst vorgeht.
Die Kriegsjahre haben ihn erschüttert. Nach allen Erfahrungen ist seine
weitere künstlerische Laufbahn erst einmal in Frage gestellt. Die
Schönheit der Welt mit Farbe und Pinsel lobpreisen, nachdem man den
Zusammenbruch der Welt erlebt hat? Das scheint für ihn vorerst
ausgeschlossen.
Aber er belästigt mit seinen privaten Lebenszweifeln die Familie nicht.
Nur Kameraden wissen von seiner geplanten Abkehr von der Kunst, seiner
vorübergehenden Resignation. Sie schreiben ins Lazarett:
(26. 10. 18)
»Lieber Jean, soeben Deinen verbitterten Brief vom 19. 10. erhalten,
vielen Dank. Wünsche, daß es Dir, lieber Kamerad, besser geht und Du
bald nach Hause kommst zur vollen Erholung ... Wir sind bald am Ziel,
verzweifle nicht – Dir fehlt auch weiter nichts als der Friede. Dann
hoffe ich, daß wir uns baldigst wiedersehen, denn Du wirst doch Deinem
Metier treu bleiben.«
Jean Metten wird ins Hinterland verlegt, um die Krankheit auszukurieren.
In Altdamm/Pommern wird er gepflegt. Doch jetzt hat er zwei Sorgen: die
um das künftige Deutschland und die, nach der Genesung noch einmal ins
Feld zu müssen und dort Gefahr zu laufen, in den letzten Kriegstagen
sein Leben zu verlieren. Briefauszüge:
(20. 10. 18) »Der Zusammenbruch Deutschlands scheint unvermeidlich.
Hoffentlich geht es schnell, je schneller, desto besser, da dann ohne
große Menschenopfer ... ›Wer das Schwert ergreift, wird durch das
Schwert umkommen‹ – Einzige Weisheit und Wahrheit! Leider sind die armen
deutschen Völker die Leidtragenden, wer weiß, ob nicht noch Zustände
eintreten, wie sie oft aus Rußland gemeldet werden. Wie werden die um
die Regierungspfeife getanzten Bischöfe und Priester dastehen? Wird sich
nicht viel Haß gegen sie erheben? Möge uns Gottes Barmherzigkeit gnädig
sein.«
(28. 10. 18) »Wird nicht noch ein Gehilfe des Todes kommen? Ich meine
die Revolution, die Blutige ... Werden nun auch noch die Kronen auf das
Pflaster rollen? Vielleicht würde das zur Entspannung beitragen ... So
mußte es kommen. Eine solche Macht- und Gewaltpolitik wie sie bei uns
getrieben wurde, mußte abgesägt werden. Aber das arme betörte Volk, wie
wird es dies hinnehmen? ... Morgen sollen welche zum Ersatz-Batl.
kommen, ob ich dabei bin?«
Er ist nicht dabei. Er bleibt im Lazarett, bis »die Kronen auf das
Pflaster rollen«. Am 9. November ist die Revolution in Berlin mit
Bekanntgabe des Thronverzichts Wilhelms II. Zwei Tage später folgt der
Waffenstillstand. Der Krieg ist aus.
Am 23. November 1918 wird Jean Metten aus der Armee entlassen. Sechs
Tage später ist er wieder in Nieder-Olm. Auch sein Bruder Andreas erlebt
im Lazarett das Kriegsende.
»Ja« zur Kunst – Mit dem Rücken zur Welt
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Der Krieg hat bei Jean deutliche Spuren hinterlassen. Die Krankheit ist
längst nicht auskuriert. Doch weit bedeutender ist sein seelisches
Leiden. 40 Monate im Feld. Die Erinnerungen an sinnlosen Tod, Verderben,
Verwüstung, Zerstörung müssen von dem empfindsamen Künstler verarbeitet
werden. Kameraden, Altersgenossen aus Nieder-Olm sind gefallen. Die
politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind unsicher, die Zukunft
ungewiß.
Auch das Verhältnis zur Kirche und zur klerikalen Politik ist zerrüttet.
Metten muß sich erst wieder finden. Was ihm dabei hilft, ist die
intakte Familie mit der fürsorgenden Mutter und der Schwester. Und vor
allem der durch nichts zu erschütternde Glaube. Er hilft Metten auch
jetzt, seine Lebensentscheidung zu treffen: Ein endgültiges Ja zur
Kunst.
Doch nach allem, was er erlebt hat, geht mit diesem Ja eine andere
Entscheidung einher: er bescheidet sich auf den rheinhessischen
Lebensraum. Mit seinem Schaffen wird er nur daheim Gottes Schöpfung
huldigen. Sollte er je mit dem Gedanken gespielt haben, sich als
Künstler draußen in der Welt zu versuchen – spätestens jetzt ist für ihn
klar, daß er keine »Karriere« anstrebt. Ärmliches Künstlerdasein in der
Fremde, Alltagssorgen um Geld für die Behausung, die Gefahr,
künstlerische Kompromisse eingehen zu müssen, um des lieben Broterwerbs
willen – das ist nichts für ihn. Selbst wenn er »den Durchbruch«
schaffen würde. Jean Metten liegt nichts an lautem Lob. Nach dreieinhalb
Jahren im Felde will er seiner Kunst da leben, wo er er selbst sein
kann: daheim, in Nieder-Olm.
Seine jäh unterbrochene Ausbildung setzt Metten nun trotz der
wirtschaftlichen Not fort. Mutter und Geschwister ermöglichen auch in
der Nachkriegszeit das Studium. Er meldet sich am 30. Oktober 1919 an
die Leipziger Akademie zurück. »Zeichnen«, »Entwerfen« und »Radieren«
stehen nur noch auf seinem Lehrplan. Und Professor Kolb ist der Mann,
für dessen Klasse er sich als Vollschüler einträgt. Die Radiertechniken
will er perfekt erlernen und weiterentwickeln.
Erneut werden seine Noten mit »1« für Fleiß und Betragen und »2« für
Leistungen ausgegeben. Doch Metten betrachtet sich längst nicht mehr als
gewöhnlichen Schüler. Dazu ist er mit 35 Jahren auch viel zu alt. Im
Anmeldeformular gibt er als Beruf »Graphiker« an. Ein Berufsziel nennt
er nicht mehr. Er ist Graphiker und bildet sich fort. Das ist sein
Selbstverständnis.
Im Juli 1920 geht er von der Schule ab. Ein knappes Jahr später, im
April 1921, meldet er sich erneut für Professor Kolbs Radierklasse an.
Hier bleibt er bis Juli 1921. Mit der üblichen Benotung: Betragen:1,
Fleiß:1, Leistungen 2.
Beide Male wohnt er in der Plagwitzerstraße 5, auf einem Flur mit einem
Kontoristen, einem Malermeister und einem Preßvergolder. (Interessante
Zufälle bringen seine beiden Leipziger Adressen mit sich: die
Moritzstraße, in der er vor dem Ersten Weltkrieg wohnte, gibt es nicht
mehr. Heute ist in Leipzig ein Neubaugebiet darüber errichtet. Doch die
Straße, die ungefähr auf der gleichen Trasse verläuft, heißt
»Manetstraße«. Auch die Plagwitzerstraße – in Plagwitz wohnte einst Max
Klinger – hat bei der Umbenennung nach dem Zweiten Weltkrieg keinen
Politiker- oder Kämpfernamen erhalten. Sie heißt heute
»Käthe-Kollwitz-Straße«. Beide Häuser, in denen Metten lebte, stehen
jedoch nicht mehr.)
Als Jean Metten Leipzig im Juli 1921 verläßt, geht er mit dem Willen,
dereinst in diese Stadt zurückzukehren. Denn er verbindet mit ihr keine
ärmlichen Studentenjahre, sondern die entscheidende Zeit seiner
künstlerischen Entwicklung. Doch wird er Leipzig nie wiedersehen.
37 Jahre ist Jean Metten alt, als er endgültig nach Nieder-Olm
zurückkehrt. Die anfänglichen Widerstände im Elternhaus und der Erste
Weltkrieg haben ihn 13 Jahre seines künstlerischen Lebens gekostet. Doch
sie haben auch den Menschen geformt.
Daheim leben die alte Mutter, die 42jährige Schwester und der Bruder,
der nun auch schon 33 Jahre zählt. Lange ist es her, seit Andreas den
Hof übernahm, um dem Bruder die künstlerische Laufbahn zu ermöglichen.
Jetzt hofft er, daß sich die Opfer bezahlt machen. Im Elternhaus hat
Jean Metten alles, was er braucht. Die materielle Sicherheit, die bei
seinen bescheidenen Ansprüchen schnell hergestellt ist. Die geistige
Auseinandersetzung, für die der Bruder Garant ist – und: Ruhe, um zu
schaffen.
Die Umwälzungen in der zeitgenössischen Kunst nimmt er wahr, die
unsicheren politischen Verhältnisse mit ihren Ungerechtigkeiten und
Fehlern beschäftigen ihn geistig. Doch seine Kunst wird davon nicht
berührt.
Der radikale Moralist und unbedingte katholische Christ, der politische
Kopf, auf der Höhe seiner Zeit, er benutzt seine Kunst nicht als
Sprachrohr, wie es manch andere taten. Nicht einmal leise Sozialkritik
findet sich in seinen Werken. Er sucht keine anklagenden Motive. Er
abstrahiert nichts. Er geht seinen Weg als Naturalist mit
impressionistischem Einschlag, und vor allem geht er seinen Weg als
Christ.
Ein Kritiker hat einmal versucht, in Motivwahl und Technik Einflüsse von
Mettens Lehrern auf das Werk festzumachen, doch er wurde nicht fündig.
Von ihnen hat Metten handwerkliches Können und farbliches Sehen
mitgenommen. Doch seine Hand wird von seinen Augen geführt. Und die
lobpreisen Gottes Schöpfung.
So zeigt seine Arbeitsmappe zahlreiche kleine, fertig ausgemalte
Aquarelle mit religiösen, biblischen Motiven. Sie wirken, als gehe es
darum, Altarbilder zu entwerfen. Er zeichnet Krippen, Marienfiguren.
Ausgedehnte Spaziergänge führen ihn durch ganz Rheinhessen. Hier bringt
er Skizzen von der Udenheimer Bergkirche mit, da entstehen frische,
duftige Aquarelle von Framersheimer Ortsansichten. Metten ist unterwegs
und nimmt die Region »Rheinhessen« mit ihren Pflanzen und Landschaften
in sich auf.
Später schreibt ein Kritiker: »Jean Metten arbeitete mit dem Rücken nach
Mainz.« Das trifft es nicht ganz: er arbeitet mit dem Rücken zur Welt.
Jean ist bescheiden, kein großer Kunsttheoretiker. Er kommt aus dem
einfachen Bauernstand und stellt seine Person nie in den Mittelpunkt.
Seine Liebe gehört den kleinen Dingen, mit ihnen gestaltet er sein Werk.
Versteckte Heckenblumen, Wiesen, Verborgenes malt er, um heimliche
Schönheit zu preisen. Er erlebt intensiv das Umfeld des Dorfes. Und aus
seinem tiefreligiösen Blickwinkel verarbeitet er es in seiner Kunst. Er
sieht mehr als andere. Und, er sieht anders.
Die rheinhessische Landschaft wirkt mit ihren Farben blaß und gediegen.
Sein späterer Freund Richard Knies schreibt über einen Spaziergang mit
Jean Metten durch Rheinhessen:
»Lange Wochen hindurch kann selbst an sonnigen Tagen ein grautrüber
Dunst, den der Bauer Höhrauch oder Heerauch nennt ... stumpf über dem
Lande liegen. Dann sind alle Fernen ›zu‹, alle Linien verschwommen, und
gerade in der weiträumigen, meist weichen, fast weiblich zu nennenden
rheinhessischen Landschaft, die in ihrer Gliederung so wenig das bietet,
was die Maler ein ›dankbares Motiv‹ nennen, braucht der Künstler,
namentlich, wenn er große Landschaft gestalten will, Ferne und Linien.
Freilich, wenn das Licht, meist kurz vor einer Reihe sich folgender
Regentage oder gleich danach, einmal Farben in die Landschaft streut,
dann leuchtet's darauf zart und vielfach wie aus einer Muschelschale,
und doch scheinen die Farben auch wieder wie aus dem Boden selbst zu
kommen.«
Das einzige Thema, dem sich Metten außer Blumen und Landschaften
verstärkt widmet, ist das Portrait. Eine Reihe recht guter Bildnisse
entstehen. Eines zeigt Professor Heinz Müller als Knaben. Er beschreibt
Mettens Ringen um das Bild:
»Er hat gesagt, ich portraitiere dich. Ich hab mich hingesetzt,
Staffelei mit Leinwand stand da. Tage davor hatte er eine kleine
Öl-Skizze gemacht. Er fing an: Kohle in großem Schwung, ein gut
gezeichnetes Portrait. Dann hat er die Palette genommen, Farbe
draufgesetzt, angefangen zu mischen – das ging noch ganz flott. Auf
einmal merkte ich: mmmh, er guckt mich an – herüber – mischte wieder
Farbe – wieder drauf – zurück – wieder – er wurde nervöser, er wurde
gespannter, das Gesicht wurde auf einmal ganz anders, die Züge wurden
hart, er geht mit dem Kopf vor – und wieder zurück. Farben gemischt,
geguckt, hingesetzt, wieder gemischt, geguckt, hingesetzt, immer
verglichen mit mir. Er wurde erregter, er wurde immer intensiver, ich
glaub', er hat auch angefangen zu schwitzen, ein Kampf war das, das
herauszukriegen. Bis er auf einmal den Kopf geschüttelt hat, Palette
hingelegt, sich hingesetzt auf einen Stuhl – in einiger Entfernung – und
da hat er dann mich betrachtet. Ich bin ruhig sitzengeblieben. Und auf
einmal springt er auf, nimmt ein Spachtelmesser und kratzt gewisse
Stellen wieder aus dem Bild weg. Und dann sagt er: ›Das nächste Mal
machen wir weiter.‹
Der Mann war bis ins letzte gespannt, die Züge wurden stark, er hat
direkt vibriert. Es wurde nichts gesprochen, keinen Ton. Der war so bei
der Sache, daß jedes Wort störend gewirkt hätte. Diese Selbstkritik,
diesen Kampf um die Gestaltung von einem Werk, das hat er immer gehabt.«
Metten kämpft mit sich selbst. Mit anderen Künstlern diskutiert er nicht
über sein Werk. In Mainz, bei der »Vereinigung bildender Künstler« ist
er bekannt. Sein Kollege, Ferdinand Preusser, schildert den
Nieder-Olmer:
»Er war nicht groß. Er war dunkelhaarig. Es hätte ihn keiner für 'nen
Künstler gehalten. Er war etwas bäuerlich in der Kleidung. Er liebte
kein Tam-Tam. Schüchtern war er nicht, er konnte sogar witzig sein. Er
hatte eine merkwürdige Art, einen anzugucken. Einen prüfenden Blick, und
– nicht mit jedem! – ein gewisses Einverständnis.
Wenn Ausstellungen im Haus am Dom stattfanden, war Metten beteiligt.
Sein Werk kam beim Publikum gut an, denn er war ja kein Experimenteur.
Er urteilte vorsichtig im Kollegenkreise und wollte jeden nach seiner
Façon selig werden lassen. Wenn ihm die Arbeiten eines Kollegen nicht
gefielen, so ließ er dies dessen Sache sein. Wenn ihm etwas gefallen
hat, so war er offen und ehrlich. Doch er hat nie viele Worte gemacht.
Kontakt zu seinen Mainzer Kollegen hat er nie gesucht. Wenn wir die
Ausstellung gemeinsam aufgehängt hatten, es hatte alles geklappt und wir
wollten hinterher gemeinsam ein Bier trinken gehen – da war er nicht zu
haben. Er hatte keine Zeit. Metten gab immer nur Gastspiele.«
Als Anfang der 20er Jahre eine Kunstgewerkschaft gegründet werden soll, lädt Ferdinand Preusser auch Metten zur Versammlung ein:
»Ich sprach ihn kurz in einer Ecke. Es ist bezeichnend, daß ich mit ihm –
im Gegensatz zu den Kollegen – nicht per ›du‹ war. Ich fragte: ›Herr
Metten, was halten Sie von der ganzen Sache?‹ Er: ›Herr Preusser, wissen
Sie was, ich halte nicht viel davon. Aber ich will mir kein Urteil
erlauben. In einer Versammlung können Sie ja abstimmen lassen, wieviel
Kollegen dafür sind. Und wenn die anderen dafür sind, dann bin ich auch
dafür. Ich schließe mich den Kollegen an.‹ – Unnahbar war Metten nicht.
Er war aufgeschlossen. Kontakt bekam man. Er war ein bißchen Skeptiker.
Sehr vorsichtig. Vielleicht aus Erfahrung. Er war skeptisch nicht nur in
der Kunst. Allgemein, auch in politischer Hinsicht. Mit seinem Leben
aber stand er in Einklang – er machte einen harmonischen Eindruck.«
Die Harmonie ist echt. Jean Metten ist mit seiner Welt zufrieden.
Anspruchslos lebt er mit den Geschwistern und dient seiner Kunst. Bruder
Andreas sieht das etwas anders. Er, der dem Älteren in rührender
Fürsorge hilft, sogar manche Rahmen für die Leinwände selbst zimmert, er
möchte Erfolge sehen.
Die prächtigen Landschaften, die ausdrucksvollen Portraits, die
wunderbaren Blumenbilder zeigen Andreas Metten, daß er zu Recht in den
Bruder investiert hat. Doch dieser macht keine Anstalten, nun die
Kunstwelt zu erobern. Statt in die Offensive zu gehen, Kontakte zu
knüpfen, große Ausstellungen zu beschicken, bleibt Jean zu Hause, packt
mit im Felde an, arbeitet im Weinberg.
Nicht nur in seinen häuslichen Ansprüchen ist er bescheiden. Er hat
nicht die Ambition, berühmt zu werden. Lob ist berechtigt und erfüllt
ihn mit stillem Stolz. Doch Jean Metten ist nicht der Mann, sich auf dem
lebendigen Kunstmarkt durchzusetzen.
Das Haus Metten, die »Wirtschaft zur Schönen Aussicht«, wird allerdings
sonntäglicher Treffpunkt von Freunden: Künstler, Pfarrer, Literaten,
Intellektuelle: Maria Ziegler, Heinrich Seck-Carton, Alfred Mumbächer
sind Künstler, die im Haus verkehren.
Herausragend ist die Beziehung der Metten-Brüder zu Richard Knies. In
Offstein bei Worms geboren, wollte Knies ursprünglich Lehrer werden,
doch ergreift er dann den Beruf des Geometers. Nebenher schreibt er
Gedichte und Novellen. Nach dem Weltkrieg, im Dezember 1918, gründet
Knies mit Freunden den Matthias-Grünewald-Verlag in Mainz. Das
Unternehmen schreibt sich »die sittlich-religiöse und geistig-kulturelle
Erneuerung aus katholischem Glaubensgefühl und der Kulturmacht der
Kirche« auf sein Panier und entwickelt sich so schnell, daß Knies die
Leitung vollberuflich übernimmt. Er fühlt und lebt ebenso tief religiös
wie Jean Metten.
Wie sich die beiden Anfang der 20er Jahre kennenlernen, läßt sich nicht
mehr ermitteln. Doch der kulturell interessierte und engagierte Knies
wundert sich später darüber, daß Metten ihm lange Zeit kein Begriff war:
»Obwohl Mainz und Nieder-Olm gar nicht weit, sondern gleichsam nur einen
modernen Hasensprung auseinanderliegen, hatte ich lange nichts gewußt
von Maler Metten.«
Knies animiert den Maler, das Bändchen »Die drei gerechten Kammacher«
von Gottfried Keller für den »Grünewald-Verlag« zu illustrieren. In
einer Auflage von 4.000 Stück erscheint der Band 1923 in der Reihe
»Gastmahl der Erzähler«. Acht Text-Zeichnungen sowie Einband und Vorsatz
werden von Metten gestaltet.
Das Büchlein wird kein Verkaufsschlager, was Metten nicht weiter stört.
Aber er ist mit der Reproduktion des Vorsatzes nicht zufrieden. Unter
seinen erhaltenen Entwurf schreibt er: »Die Erstfassung des Entwurfs.«
Und unter dem Druck vermerkt er verärgert: » ... und das, was der Verlag
daraus gemacht hat.«
Scheinbar hingeworfene Personenfiguren hatte er schachbrettartig
angeordnet. Dazwischen einen flüchtig hingewischten grün-blauen
Pinselstrich. Diese Zwischenfelder waren vom Verlag im Vollton exakt
ausgemalt – und damit totgemalt – worden. Das ärgert Jean. Dies ist
vielleicht der Grund dafür, daß Metten nie wieder ein Buch gestaltet.
Die »Kammacher« bleiben das erste und einzige von ihm illustrierte Werk.
Der Freundschaft mit Knies tut das freilich keinen Abbruch.
Wie bei so vielen Freunden, die durch den Künstler Jean ins Haus kommen,
profitiert der Land- und Schankwirt Andreas Metten von den Kontakten.
Oft als bevorzugter Gesprächspartner der Intellektuellen aus der Stadt
hat der jüngere Bruder den geistigen Austausch, den er braucht. So
erntet er wenigstens ideell von seinem großen Engagement um den älteren
Bruder.
Richard Knies widmet in einem Aufsatz über den Maler auch dem Bruder Andreas eine Passage:
»Es ist schön sitzen im Mettenschen Atelier, wenn man die großstädtisch
ermüdeten Nerven ein wenig in ländlicher Ruhe baden will, und gut sitzen
ist's auch, weil nämlich Mettens Bruder auf einem anderen, aber auch
nicht zu verachtenden Gebiet ein Künstler ist: Bruder Metten, wie wir
ihn im Unterschied von Maler Metten kurz nennen, wenn er freilich auch
keinem Orden, als dem der gütigen Menschen angehört, Bruder Metten
keltert und pflegt zu seinem Unterhalt und zum allgemeinen Wohl einen
Wein, der sich Gott sei Dank nicht gewaschen hat ...«
Vor allem die gemeinsame religiöse Basis begründet die Freundschaft der
Metten-Brüder mit Richard Knies. Später (1931) wird Heinz Müller-Olm
eine Madonnen-Figur für die Wirtschaft schaffen. Sie wird mit einem
Spruch von Richard Knies versehen, der davon zahlreiche Varianten
vorlegt. Andreas – »Bruder« – Metten sucht die Worte aus: »Maria mit dem
Kinde Dein, beschenk dies Haus mit gutem Wein, laß Wirt und Gäst zum
Himmel ein.«
Die Schaffenszeit zu Anfang der 20er Jahre lassen Mettens Werk erblühen.
Ölgemälde, Aquarelle, Federzeichnungen; Metten ist produktiv – und
verkauft. Zwar nicht in Massen, aber die alljährlichen Mainzer
Ausstellungen sind jeweils von ihm beschickt. Museen und Privatleute
kaufen. Metten hat sein Auskommen. Mehr will er nicht.
Thematisch ändert sich indes nichts. Er huldigt der rheinhessischen
Landschaft, den Blumen. Einige wenige Tierbilder entstehen, ebenso
Portraits.
Ein erster Ausbruch aus dieser gleichförmig zufriedenen Phase erfolgt
1925. Der Mainzer Dom bietet ihm die Motive zu einem Radierungs-Zyklus:
der »Dom-Mappe«.
Jean Metten kennt den Küster und läßt sich im Zeitraum von zwei Jahren
mittags im Dom einschließen, damit er in Ruhe arbeiten kann. Nach vielen
Studien zeichnet er schließlich peinlich genau nach der Wirklichkeit.
Heinz Müller berichtet: »Ich war öfter mit ihm im Dom. Für mich war das
'ne komische Angelegenheit. Ich hab' da nicht gezeichnet. Der dunkle Dom
und dann das Gefühl, eingeschlossen zu sein ... – Er war froh, er hat
geschafft. Er hat nicht viel gesprochen, ich wollt' ihn auch nicht
stören.«
Die fertige Mappe beinhaltet 18 Blätter – der erste Zyklus im Schaffen
des Jean Metten entsteht unspektakulär und ohne Auftraggeber. Auf
Kommerz ist er wahrlich nicht eingestellt.
In seinem Heimatort ist kaum bekannt, was sich da im Hause Metten tut.
Man weiß allenfalls, daß da einer »studiert ist«, gar in Leipzig war.
Man sieht in Metten den bescheidenen, gutmütigen und klugen Menschen,
der sich vielleicht ein wenig anders bewegt als andere und sein Haar
auch etwas länger im Nacken trägt.
»Mer hot em doch oogemerkt, dass was dehinner iss. – E kloo bissje
Kinstler hot mer gesehe.« So wird er im Nachhinein von Leuten
geschildert, die ihn über Jahrzehnte unverändert als den »Metten-Jean«
kannten. »Er war sehr ruhig, bedächtig, freundlich, zurückhaltend,
zaghaft in seiner Art, nicht mit Energie losmarschierend.« »Er ist etwas
getaucht gegangen. Er war ›der Maler‹, aber nicht als Boheme-Typ.
Sondern als akzeptierter, eben etwas anders gearteter Bauer.«
Die Nieder-Olmer sehen ihn selten, wenn er durch die Gemarkung streicht,
um Motive zu suchen. Dem hart arbeitenden Landvolk ist das auch egal.
Nur in der engsten Nachbarschaft weiß man darum, daß aus Jean ein Maler
geworden ist. Er gilt als hilfsbereiter, netter guter Geist. Daß die
Nachbarn seine Kunst nicht einschätzen können, kümmert ihn nicht. Im
Gegenteil, er reagiert auf Anliegen, die ein Künstler mit gutem Recht
als Zumutungen auffassen dürfte:
An der Wegkreuzung steht ein hölzerner Wegweiser, der wahrscheinlich von
einem unachtsamen Bauer abgebrochen worden ist. Jean wird vom Nachbarn
aus der Mühle gebeten, dies nachzuzeichnen, damit er der Regierung klar
machen könne, daß da ein neuer Wegweiser gebraucht wird. Denn in der
Hubertus-Mühle und der Wirtschaft zur Schönen Aussicht hatten Reisende
immer wieder nachgefragt, wo es denn lang gehe. Tatsächlich hat die
Eingabe Erfolg.
Die Nachbarn Hubertus, die Stenners, das sind Freunde, die auch auf
einen Plausch in die Wirtschaft kommen. Einige von ihnen malt Jean
Metten, manche skizziert er kurz, um Radierungen zu fertigen. Weil er
weiß, daß die Freunde seine Kunst nicht einschätzen, sie unter normalen
Umständen auch nicht kaufen können, schenkt er hier ein Bild zur
Hochzeit, da eine Radierung für ein Kommunionkind, dort eine zur
Verlobung. Der Maler ist freigiebig.
Er greift sogar zum Pinsel, als die Nachbarin Anna Stenner bittet, er
möge doch eine wunderbare Glyphie malen, die sie so erfreut. »Wir hatten
ein Bild in einem Rahmen, da war eine Heidelandschaft. Die hatte ein
Ingenieur mal von einer Postkarte abgemalt. Ich als Nicht-Kenner hab'
gesehen, daß es abgemalt war. Aber trotzdem: Es war schön. Und der Onkel
hat gesagt: ›Ach Gott, das hat einer abgemalt. Aber der Rahmen, der ist
wunderbar, der ist echt.‹ Und da hab' ich gesagt: ›Ei mal doch meine
Glyphie.‹ Da ist er hergegangen und hat sie gemalt. Er kam tagelang. Da
hab' ich ihn gefragt: ›Was kriegst Du dafür?‹ Da hat er gesagt: ›Das
kannst Du gar nicht bezahlen.‹ Da wollte ihm der Schorsch was geben, das
hat er nicht genommen. Er sagte, es wäre ein Andenken an ihn. Man hat
nix kaufen können.«
Auf seine ausgedehnten Spaziergänge nimmt der Maler nur wenige Menschen
mit. Heinz Müller, den er anleitet: »Theorie, Farblehre oder sowas, das
hat er nie gemacht. Wenn ich 'ne Skizze gemacht hatte, hat er gesagt:
›Das ist verkehrt‹ und ›du mußt immer beobachten, beobachten, immer die
Natur anschauen.«
Ein anderer ist selten sein Weggefährte durch die Fluren, dafür aber ein
um so beliebterer Gesprächspartner. Bruder Stephan, ein Klosterbruder
aus Wien, gebürtiger Nieder-Olmer, mit dem bürgerlichen Namen Anton
Sieben. Wenn der Geistliche in Nieder-Olm bei seiner Schwester wohnt,
sucht er das Zusammensein mit Jean Metten. Der geduckt gehende Metten
und der wesentlich größere Bruder Stephan durchwandern philosophierend,
gestikulierend und zeitvergessend Rheinhessen. Und wenn der Bruder vom
Spaziergang kommt, stellt er fest: »Das war heute wieder ein Genuß für
mich.«
Metten verkehrt deshalb auch bei Verwandten des Geistlichen im Hause
Horn, fertigt dort mit einer Küchenszene, die als getreue bäuerliche
Milieuschilderung gelten darf, eine glänzende Radierung.
Eine Tochter des Hauses Horn, Elisabeth Meuser, erzählt, wie Metten sich
ungezwungen mit ihr als junges Mädchen befaßt. Für ihn gibt es keine
Distanz vom Erwachsenen zum Jugendlichen. Im Gegenteil: Metten erkennt
die guten Anlagen des Mädchens und bringt ihr das Schachspiel bei.
Schach ist zu dieser Zeit in Nieder-Olm ein geradezu exotisches Spiel.
Hier spielt man höchstens Skat. In der Wirtschaft »Zur Schönen Aussicht«
hilft Jean Metten nicht ungern als vierter Mann aus. Aus dem Skatspiel
ist denn auch die einzige verbürgte Situation entstanden, die den
ruhigen gleichmäßigen eher zurücksteckenden Jean die Contenance
verlieren läßt. Ein Mitspieler muß mit einer unmöglichen Karte den
sicheren Sieg verschenkt haben. Jean ist wütend und läßt seinem Unmut
spontan freien Lauf; ein völlig untypischer Gefühlsausbruch.
In der Wirtschaft, in der es Handkäse mit Musik zum Wein gibt, ist
Metten ansonsten kaum anzutreffen. Eine Ausnahme macht er, wenn Freunde
kommen. Über Kunst wird unter den Künstlern freilich kaum diskutiert;
eher über Wissenschaft und Religion, zumal der Kreis aus religiösen
Menschen besteht. Natürlich geht es auch um Politik.
Da machen sich Unterschiede zwischen Andreas, dem Kunstförderer, und
Jean fest. Jean liest Zeitungen, ist immer auf der Höhe der Zeit.
Andreas liest Bücher. Jean liebt keinen Rummel, Andreas dagegen ist
stolz darauf, eine Elisabeth Langgässer im Hause bewirten zu dürfen.
Das Verhältnis der Brüder zueinander kann mit dem der Gebrüder van Gogh
verglichen werden. Dabei fördert Andreas den Freundeskreis nicht nur dem
Bruder zuliebe: hier entsteht das geistige Niveau, auf dem er verkehren
will. Denn Andreas macht zwar nicht in Worten, aber doch durch seine
Haltung Unterschiede zwischen dem einfachen Bauern und der belesenen
Schriftstellerin. Für Jean dagegen sind sie im Umgang auch gefühlsmäßig
alle gleich. Er nimmt die Menschen, wie sie kommen, wenn sie nur nicht
falsch sind. Dann wendet er sich ab.
Ihre Schwester Apollonia beziehen die Brüder kaum in die geistige Welt ein – sie wirkt als die gute Seele, die Frau im Hause.
Ein »Nein«, das erleichtert – Jean Metten und die Frauen
⇧
Das Thema »Frauen« ist für die Metten-Brüder ein eigenes. Jean Metten
sieht gerne schöne Frauen. Sind doch viele seiner Portraits in den 20ern
Frauenbildnisse. Und es wird erzählt, er habe in seiner Leipziger Zeit
eine schöne Studentin kennengelernt, die ihm wohl gefallen habe.
Tatsächlich gibt es Zeichnungen von einer jungen Frau, die offenbar kein
Modell der Akademie war, auf denen sogar der Name »Gisela« vermerkt
ist. Doch mehr weiß man nicht.
Der zögernde, zurückhaltende Jean Metten hätte bei einer Heirat
Verantwortung auf sich nehmen müssen. Eine Frau, womöglich Kinder, das
hätte ihn genötigt, regelmäßig zu verdienen. Er hätte seine Kunst
zugunsten eines »Berufes« aufgeben – oder seine Berufung zum Geschäft
machen müssen. Beides ist für ihn kaum akzeptabel.
Dennoch: Es gibt eine Frau, für die Jean Metten Verantwortung auf sich
genommen hätte. – Das Verhältnis zu umschreiben, fällt schwer. Der tief
religiöse Jean sieht in einer Frau etwas absolut Hochstehendes, fast
Unantastbares. Eine Verkörperung der Muttergottes vielleicht gar. Und so
ist es die ebenso religiöse, feinfühlige Elisabeth Seeger, Schwester
eines Geistlichen, für die Metten mehr als nur Freundschaft empfindet.
Man könnte formulieren: »Er macht ihr einen Antrag, und sie lehnt ab,
darauf bleibt er ledig.« Doch so einfach geht das nicht. Die Beziehung
muß in einer absolut reinen, zartfühlenden und zurückhaltenden Art
gesehen werden. Metten ist nicht der Mann, forsch um die Frau zu werben.
Irgendwann läßt er – die Verneinung seines Ansinnens fast schon
voraussetzend – die erkorene Dame wissen, daß er sich ein Leben
gemeinsam mit ihr vorstellen kann. Das ist kein konkreter Antrag, kein
zielstrebiges Werben, sondern ein zurückhaltendes Erkennenlassen.
Ähnlich sanft muß das »Nein« zu verstehen gegeben worden sein. Es ist
dies keine beidseitige Liebesaffaire mit schlechtem Ende. Es ist ein aus
dem platonischen Rahmen sich ganz zart herauslösendes Aufmerksammachen,
das, führt es nicht zu totalem Entgegenkommen, nicht weiter betrieben
wird.
Und dieses Entgegenkommen bleibt aus. Elisabeth Seeger bleibt wie Metten ein Leben lang partnerlos.
Wenn man das absolut feinfühlige und hochstehende Empfinden Mettens
berücksichtigt, sich jedoch auch seine regelrechte Angst vor
Verantwortung vergegenwärtigt, so kann es sein, daß der ablehnende
Bescheid Metten im tiefsten Inneren sogar gelegener kommt als ein »Ja«
mit allen Konsequenzen. Und so bleibt er ein charmanter, gut
plaudernder, liebenswürdiger, kluger Junggeselle. Denn natürlich
bekommen Außenstehende so gut wie nichts von der Sache mit.
Die Metten-Geschwister gelten als verknöcherte Junggesellen. Und so ist
es für den ganzen Ort eine Riesen-Überraschung, als Andreas Metten 1927
Apollonia Rögner heiratet: »Die müssen gefreit worden sein.«
Gleichwie: Die Hochzeit ändert den routinierten Tagesablauf mit einem
Schlag. Plötzlich ist eine Frau im Haus, mit der sich die Geschwister
Jean und Apollonia erst arrangieren müssen. Nicht von ungefähr fällt
Jeans erste Auslandsreise ins Jahr 1927. Er folgt einer Einladung von
Richard Knies nach Locarno. Dort entstehen einige duftige Aquarelle –
doch der Italien-Aufenthalt hat keine großen Konsequenzen. Künstlerisch
wie menschlich zieht es Metten zurück nach Rheinhessen, und so leben die
Geschwister jetzt eben im Quartett.
Doch für Andreas ändert sich einiges. Er muß nun auch eine Frau und bald
darauf Kinder ernähren. Er ist noch mehr als ohnehin auf einen
geregelten Unterhalt angewiesen.
Für Jean kann dies zunächst materiell keine Probleme bringen. Dazu ist
er zu anspruchslos. Bei Ausstellungen in Mainz – im ehemaligen
Polizeipräsidium oder in der Stadthalle – kommt er gut an. Mit
Pferdebildern und Portraits – so »Die schöne Mainzerin« – erlangt er
gute Kritiken. Tout de Mayence ist zu solchen Gelegenheiten auf den
Beinen, katholische und sozial-demokratische Zeitungen loben Mettens
Werk. Das nimmt er gelassen als Bestätigung seines Weges.
Daß er verkauft, das weisen Quittungen aus. Allein Mainzer Museen kaufen
von 1927 bis 1929 für rund 1.000 Mark Bilder. In Öl (220-280 Mark pro
Bild), Federzeichnungen (55-100 Mark) oder Radierungen
(8-10 Mark).
Das reicht, mehr hat er nicht nötig. Er ist kein Hungerkünstler, sondern
eben nur bescheiden. Und so wird seine Erscheinung im Heimatort
mißverstanden: »Er ist immer so anders dahergekommen, so altmodisch, wie
wenn er das Geld nicht über Nacht im Haus hätte. Die Mettens waren
nicht gut situiert – man hat immer gesagt: arme Künstler. Betracht
doch's Mettense Jean, der kann nicht leben und nicht sterben. Er hat so
verzottelt ausgesehen, als hätt er's Geld nicht, um die Haare schneiden
zu lassen.«
Seine unauffällige Erscheinung ist gewollt. Wenn er sich neue Kleidung
machen lassen muß, dann ist Jean Metten in seiner Wahl bestimmt: Der
Schneider Hans Lieb: »Er hat nicht so viel Wert auf Kleidung gelegt. Er
war immer so gediegen angezogen. Zwei oder drei Hosen hab' ich ihm
gemacht. Modern wollte er nicht, da war er viel zu gediegen für. Er hat
immer einen anständigen Stoff genommen, immer was dunkles. Er hat zu den
Jacken, die er noch hatte, die Hosen bestellt. Er hat nie was genommen,
was auffällig war. Das hätte er abgelehnt.«
Gediegen, zurückhaltend, unauffällig. Das ist Jean Metten, aber nur zum
Teil. Er weiß wohl, wie man sich in der »großen Welt« bewegt. Und wenn
er auch meist als bescheidener Mensch auftritt: Bei besonderen
Gelegenheiten – so zu Hochzeiten – stellt er sich im Anzug und Zylinder
vor. Und im Sommer arbeitet er gerne in einem gelblichen Malerkittel,
der gebügelt und gestärkt sein muß.
Finanziell geht es ihm recht gut. Geld ist im Hause Metten immer da –
Geld, das die Geschwister getrennt verwalten. Andreas schafft sich neue
Felder an, steckt wie Jean und die Schwester Apollonia mehrere tausend
Goldmark in den Verlag des Freundes Richard Knies und verliert sie, als
der Verlag ins Schlingern kommt.
Knies ist eher ein kühner Verleger, denn ein kühler Kalkulator. Den
Profit seiner verlegerischen Aktivitäten erlangen die Mettens nur
ideell. Als Erneuerer der Theologie, angelehnt an christlich-sozialen
Idealen, politisch verkörpert durch die Zentrumspartei, ist Knies, sind
die Mettens autodidaktische Laientheologen. Im Matthias-Grünewald-Verlag
werden Bücher des Theologen und späteren Mainzer Pfarrers Romano
Guardini veröffentlicht und im Hause Metten diskutiert.
Knies und manche Künstler – so der blinde Bildhauer Jakob Schmitt, Maria
Ziegler, Heinrich Seck-Carton, Alfred Mumbächer – kommen nach
Nieder-Olm zu den Mettens. Die Mettens ihrerseits sind in Mainz – sieht
man von den Pflichtübungen bei Ausstellungen der Künstler-Vereinigung ab
– nicht zu sehen. Der Kunstkritiker Wilhelm Michel, der Notar Arens,
das sind weitere Freunde des Hauses, die an Sonntagen aus der ländlichen
Wirtschaft einen theologisch-philosophischen Debattierklub machen.
Im Haus wird es jetzt eng. Sechs Kinder (Apollonia, Johannes, Barbara,
Elisabeth, Maria und Andreas) werden von 1928 bis 1935 geboren – die
Ruhe für Jeans künstlerisches Wirken ist dahin. Doch auch hier ist
Andreas der Macher. Er ermöglicht den Kauf eines Hauses in der
Pfarrgasse und richtet darin ein Atelier ein.
Da sitzt dann Jean Metten mit seinen Freunden – im Winter um einen Knallofen – und diskutiert.
Nach außen hin ist Metten ein stiller freundlicher Zeitgenosse. Er legt
sich mit niemandem an – selbst wenn ihm einiges gegen den Strich geht.
Denn so ruhig er ist, er ist politisch auf der Höhe der Zeit – und
aufrichtig. So greift er nicht ein, wenn zwei alte Bauern in der
Hubertusmühle Korn abladen und in freudiger Erregung von Wundertaten und
Heldentum während des Krieges palavern. Aber den kleinen Jungen, der
nebendran steht und das alles hört, den nimmt er später zur Seite: »Tu
das all nicht glauben. Die schneiden alle auf. Der eine war Sanitäter –
da kann man daheim groß erzählen. Aber vorne, an der Front, da haben sie
alle Schiß gehabt. Alle miteinander.«
Dem belesenen Halbwüchsigen gibt er auch Bücher-Tips. »Im Westen nichts
Neues«, oder Romane von Upton Sinclair – also auch Arbeiterliteratur. Ob
Metten die Bücher selbst liest oder nur auf Kritiken in einschlägigen
Zeitungen hin empfiehlt, ist nicht klar. Immerhin: Namen und
Zusammenhänge sind ihm geläufig.
Im Dezember 1929 engagieren sich die Mettens erstmals bei einem lokalen
Anliegen. Die Brüder weiten ihren kulturellen Mikrokosmos auf einige
Nieder-Olmer aus, die in der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht« den
»Holzamer-Bund« gründen.
Wilhelm Holzamer, 1870 in Nieder-Olm geboren und 1907 in Berlin
gestorben, ist im dörflichen Nieder-Olm ein Verfemter. Einer, der Frau
und sieben Kinder im Stich läßt, um mit einem jungen Ding
durchzubrennen, nach Paris und Berlin zu ziehen, der ist unten durch.
Daß hier ein schweres Künstlerschicksal sich vollzogen hat, das zu
durchschauen überfordert die meisten Nieder-Olmer.
Doch die Brüder Metten können, wie sonst nicht allzu viele,
unterscheiden. Zwar ist es auch für sie verwerflich, mit dem kirchlichen
Sakrament geschlossene Ehebande zu brechen und in wilder Ehe zu leben.
Doch mindert das nicht die Wertschätzung für das literarische Schaffen
und die im Werk unschwer erkennbare menschliche Substanz Wilhelm
Holzamers. Der Mann, der in seinen Novellen Rheinhessen ein Denkmal
gesetzt hat, ist für die Mettens auch aus ganz persönlichen Gründen
interessant. Spielt doch das Hauptwerk Holzamers »Vor Jahr und Tag« in
der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht«. In ihr war Holzamer als Junge des
öfteren, gemeinsam mit seinem Großvater, Andreas Holzamer. Die
Schilderungen der Ortsansichten vom Wirtshaus aus – die Mettens können
sie mit einem Blick aus dem Fenster nachvollziehen.
So ist Andreas Metten gar im Vorstand des Bundes, der zum 60. Geburtstag
Holzamers am 28. März 1930 eine Gedenktafel am Geburtshaus in der
Pariser Straße anbringt. Heinz Müller-Olm hat die Tafel geschaffen. Und
eine Gedenkpostkarte, die der Bund zum gleichen Anlaß herausgibt, zeigt
Holzamers Portrait, gezeichnet von Jean Metten. Auch legt der Bund das
Werk »Vor Jahr und Tag« neu auf. Holzamers Bücher sind –
selbstverständlich – Bestandteil der Mettenschen Bibliothek.
Im stockkonservativen Nieder-Olm mag das Engagement für den Verfemten
nicht auf ungeteilte Gegenliebe stoßen. Doch die Mettens sind – wenn
auch selbst zutiefst konservativ – so doch Freigeiste. Auch und vor
allem im Umgang mit der Kirche. Streng christlich sind sie beileibe
nicht kritiklos. Keine untertänig-blinden, sondern bewußt-demütige
Katholiken. Der Papst als höchste Autorität wird zweifellos anerkannt.
Ein Treffen mit Papst Pius XI. ist somit unbestreitbarer Höhepunkt im
Leben des Jean Metten.
Privataudienz beim Papst – Angst vor der Karriere
⇧
Nach seiner Locarno-Reise 1927 hatte Metten 1929 erstmals Rom besucht.
Über diese Reise gibt es keinerlei Informationen. Doch ein Jahr später
reist Metten wieder nach Rom, diesmal gemeinsam mit Heinz Müller-Olm.
Dieser berichtet:
»Die Fahrt war grausam. Dritter Klasse. Holzwagen. Wir sind mittags
gegen Drei in Mainz abgefahren – die ganze Nacht durch – und kamen erst
gegen Mittag in Rom an – grausam. Er (Jean Metten) hatte gesagt: ›Nehm
rohe Eier mit und Schnaps und ein bißchen Brot. Die Eier kann man
trinken.‹ – Die Strapazen der Reise, vitale Italiener, die einen in die
Ecke drängten – das hat ihn nicht gekümmert.
Wir wohnten bei Pallottiner-Mönchen in einem Haus für wandernde
Gesellen. Er hatte das organisiert, ich hab' da nix geplant. Wir sind
viel durch die Stadt gebummelt, auch mal 'nen Halben getrunken, er hat
alles wohlwollend akzeptiert.«
Es ist eine sorglose, ja ausgelassene Zeit in Rom. Früh morgens besucht
Metten in einem Kirchlein den Gottesdienst, dann ist er mit Pinsel und
Papier unterwegs, aquarelliert die Peterskirche, Brücken. Metten ist
voller Bewunderung, nimmt auf, ohne Kritik. Natürlich kommt man auch
nicht am politischen Leben Italiens vorbei. Wenn ein Italiener im
Schwarzhemd kommt, von Mussolini spricht, um kurz darauf zu erklären,
unter dem schwarzen Hemd trage er ein rotes Herz, da ist Metten hübsch
still.
Doch typischer ist eine andere Geschichte. Als der durchtrainierte Heinz
Müller-Olm einen Wettlauf mit einem Italiener vereinbart: »Wir haben so
100 Meter abgemessen, einer hat mit 'nem Taschentuch dagestanden – und
es ging los. Der Kleine ist gelaufen was er konnte, hat sogar seine
Schlappen verloren, ist barfuß gelaufen. Ich hab' ihn natürlich
überholt. Da gab's ein Gejohle und Geschrei – und der Onkel stand dabei
und lachte.«
Vorläufiger Höhepunkt des Rom-Aufenthaltes indes ist eine Papst-Audienz.
Heinz Müller-Olm: »Damals war der Papst noch Gefangener im Vatikan. Wir
waren nur 15 Leute – eine Sonderaudienz quasi. Wir haben uns
aufgestellt, und uns wurde gesagt, wenn der Papst kommt, sollten wir uns
hinknien. Auf einmal kam die Schweizer Garde mit den Hellebarden,
pflanzten sich vor der Tür auf – und der Papst kam an einer ganz anderen
Tür rein. Ein paar Würdenträger waren mit ihm. Er ging herum. Da waren
Franzosen, Italiener, und neben uns standen drei Bayern. Bergsteiger,
mit kurzen Hosen. Da höre ich wie einer zum Papst sagt: ›Das sind
Deutsche‹, und da hat er mit denen gesprochen: welchen Berg sie schon
bestiegen hätten. Da haben sie irgend etwas genannt, da sagte er: ›Den
kenn' ich.‹ Nachher hat er jedem einzelnen seinen Segen gegeben. Dann
kam er auch zu uns, hat auch wieder gesagt: ›Tedesci?‹ – und ist wieder
zur Tür raus.«
Ist diese »Sonderaudienz schon mehr als einem normalen Rom-Reisenden
zusteht, so ist ein Privat-Empfang beim Papst kaum einzuordnen. Wie es
dazu kam, daß Metten im Frühsommer 1930 dem Papst dabei seine Mappe mit
Dom-Radierungen überreichen konnte, bleibt im Dunkeln. Dank Heinz Müller
wissen wir jedoch, wie sich der für Metten wichtigste Tag seines Lebens
abspielte:
»Es kam ganz kurzfristig – und dann gab's 'ne Mords-Aufregung. Zur
Privat-Audienz mußte er im richtigen dunklen Anzug kommen. Und wir
hatten ja nix dabei. Irgendwie durch die Mönche kamen wir zu 'ner
Leihanstalt. Und da gab's dunkle Anzüge.
Er war natürlich aufgeregt. Er ist mit dem deutschen Botschafter hin.
Mit dem hat er sich an den Collonaden getroffen – es war eine höchst
offizielle Sache.
Ich war mehr aufgeregt als er – aber er war halt auch nervös, die Mappe
mit den Dom-Radierungen hat er paarmal rumgedreht. Und alles richtig
gelegt. Gründlich rasiert – diese kleinen Sachen waren sicherer Beweis
seiner großen Anspannung. Er hat sich riesig gefreut. Es war eine
eigentümliche Stimmung: ängstlich-freudig. Es war eine feierliche Sache.
Ich ging mit ihm, bis er alleine weiter mußte. Der Botschafter war
seriös angezogen, so ganz vornehm, nicht überkandidelt, ganz vornehm ist
er geschritten. Und der Maler hatte so'n bißchen Steppelches-Schritt. –
Wenn er schnell gegangen ist, dann ist er so gedeppelt. Sie sind rein,
die Wachen haben sofort getrommelt, standen da wie die Hellebarden. –
Und dann waren sie weg.
Ich hab' gewartet – und dann kam er. Er ist mit dem Botschafter raus,
der ist dann mit seinem Auto weg. – Dann bin ich zu ihm hin. Er war
selig. Ach was, er war überselig. Er hat gestrahlt. Ich bin auf ihn los:
›Wie war's?‹ Und da mußte er ja was sagen. Ich hab' gesagt: ›Komm, wir
trinken wo was‹, aber wir sind ins Kloster, er war so aufgeregt. Er hat
dagesessen, dann kamen die Mönche noch herbei. Ha, da hat er geschwärmt
und hat gesagt, der Papst hätte sich erst mal nach ihm erkundigt, was er
treiben tät. Dann hat er erzählt vom Mainzer Dom, daß er ihn gezeichnet
hätte. Der Papst hätte gehört vom Dom, daß es ein schönes Bauwerk sei.
Dann hätte er die Blätter einzeln betrachtet. Der Botschafter hat die
Mappe gehalten. Dann hat er gesagt, er wolle den Kreuzweg malen für die
Kirche. Und dann hat der Papst nach seinen Verwandten gefragt. – Er
antwortete, ja, die Mutter lebt noch, und die Geschwister. Dann hat ihm
der Papst seinen Segen gegeben – auch für die Verwandten, die Freunde.
Danach haben sie sich verabschiedet. In dieser Art fünf Minuten beim
Papst – das ist was Tolles. Und er war mindestens 'ne Viertelstunde da.«
Jean Metten, der Mann, für den jedes Pflänzchen als Bestandteil von
Gottes Schöpfung heilig ist, für den jeder in der Dorfkirche gesegneter
Gegenstand eine heilige Reliquie ist – gesegnet vom Papst selbst. Der
Maler ist in seinem Lebensnerv getroffen, in seiner Arbeit gestärkt,
innerlich erhoben.
Wie stark Mettens Glaube an die Grundfesten der katholischen Kirche ist,
zeigt eine andere Episode aus Rom, da er Heinz Müller mehr oder weniger
zur Beichte befiehlt. »Da war er sehr bestimmt: ›Da gehste hin.‹ Er hat
mich geistig mehr als einmal am Ohr gekriegt.«
Metten selbst läßt sich nicht kriegen. Denn dem 46jährigen bieten sich
in Rom auch berufliche Perspektiven. Nach der Privat-Audienz wird er in
die Deutsche Botschaft zum Tee eingeladen und offenbar ein wenig
hofiert. Heinz Müller-Olm: »Er hat erzählt: ›Da gab's so'n kleines
Tässchen, da haben wir uns nicht setzen dürfen, da sind wir so rum und
haben unser Tässchen in die Hand nehmen müssen – und nebendran haben so
Gebäckstückchen gelegen.«
Bei dieser Gelegenheit wird Metten gefragt, ob er nicht in Rom an einer
kleinen Akademie Dozent werden wolle. Doch er sagt nein. – Auch massive
Vorhaltungen von Heinz Müller-Olm können ihn nicht umstimmen. »Nein,
nein, meine Mutter, meine Mutter daheim, ich kann nicht von meiner
Mutter weg« – da bekommt er vor lauter Verlegenheit Angst. Die Mutter
ist mehr als nur ein Vorwand. So gerne Metten in Italien weilt,
irgendwann muß er zurück nach Nieder-Olm. »Wenn der den Kirchturm seiner
Heimatgemeinde nicht gesehen hat, ist er krank geworden«, urteilt
später ein Verwandter. Metten hat Heimweh, will aus seiner kleinen Welt
gar nicht heraus. Er wirkt im Stillen, für sich, zum Lobpreis von Gottes
Schöpfung. Welches höhere Lob als das des Papstes hätte er denn noch zu
erwarten?
Seine Arbeit in Italien wird durch die Ereignisse nicht berührt. Rom,
Neapel, Pompeji – Metten zeichnet Straßen, Brücken, Kirchen. Und wenn er
irgendwo ein Blümchen entdeckt, dann malt er es mit Liebe in seine
Zeichnung hinein. Auch in Assisi weilen die beiden Nieder-Olmer drei,
vier Tage. Bei den sogenannten »Grauen Schwestern«, den
Elisabethschwestern im Fremdenhospiz.
Neben ihnen ist eine Gräfin einziger Gast. Eine gebildete, gepflegte
Frau, mit der Metten lange intensive Gespräche führt, während Heinz
Müller-Olm seiner Wege geht. Die Frau hat Format – und ist sicher
jemand, mit der Metten als Mensch sehr gut auskommen könnte. Doch an
mehr als an angeregte Gespräche, gegenseitiges Verständnis,
freundschaftliche Liebe ist nicht zu denken. Metten ist mit seiner Kunst
verheiratet. Und die ist an Rheinhessen gebunden.
1931 kommt er nochmals nach Rom. Über diese vierte und letzte Italien-Reise ist wieder nichts bekannt.
Von den Reisen bringt er jedem Familienmitglied etwas mit. Er vergißt
niemanden, nicht einmal das Küchenmädchen, das er mit einem Rosenkranz
beschenkt.
So bedeutend die Privat-Audienz für ihn ist, er ist still in sich
zurückgezogen mit seinem Glück. Engste Nachbarschaft, ja Freunde des
Hauses Metten, erfahren erst lange nach dem Tod des Malers von dieser
besonderen Ehre. Er geht mit dem Erlebnis nicht hausieren – er
verschließt es in sein Herz, bewahrt es.
Der braune Aufmarsch – Die »innere Emigration«
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Innerlich gefestigt, künstlerisch selbstbewußt strebt Metten neue Werke
an. Was er dem Papst erzählt hat, einen Kreuzweg für die Nieder-Olmer
Pfarrkirche zu malen, ist sein Herzenswunsch. Und er hat noch mehr
Pläne. Mit dem Nieder-Olmer Lehrer Rektor Roth will er ein Buch über die
Geschichte Nieder-Olms veröffentlichen. Roth will die Texte
zusammentragen, Metten illustrieren. Doch über das Planungsstadium kommt
das Buch nie hinaus.
Ebenso ergeht es einer anderen Publikation, die Metten anstrebt. Der
Würzwisch beschäftigt ihn seit Jahren. Die Heilkräuter, die in den
rheinhessischen Wiesen gesammelt werden, will er alle zeichnen und – mit
erläuternden Texten versehen – veröffentlichen. Denn diese Kräuter sind
der Jungfrau Maria geweiht. Für den Künstler sind sie zudem sichtbarer
Beweis von Gottes Wirken in der Natur. Er hat die Kräuter oft in seine
Bilder eingearbeitet.
Metten spricht viele Menschen an, die er um Textbeiträge bittet, vor
allem Lehrer. Auch macht er sich daran, alle 33 Heilkräuter aufzufinden,
was gar nicht so einfach ist. Noch Jahrzehnte später ist er auf der
Suche nach einzelnen Kräutern.
Immerhin: Der Mann ist vital, will schaffen und ist jetzt – kurz vor
seinem 50. Geburtstag – auch in jeder Hinsicht dazu in der Lage.
Doch die Zeiten sind nicht danach. Die unsicheren politischen
Verhältnisse münden Anfang 1933 in die Herrschaft der
Nationalsozialisten.
Der Freund des Hauses, Heinz Müller-Olm, erhält bald Berufsverbot, wird
nicht in die Kulturkammer aufgenommen. Und den Juden des Dorfes droht
Schlimmes. Mettens haben mit vielen Juden Kontakt. Mit Alterskameraden,
über den Holzamer-Bund.
Schon 1933 dient das Atelier in der Pfarrgasse als vorübergehende Bleibe
für einen Ingelheimer Pazifisten, der besser für eine Zeit lang von zu
Hause verschwindet. So treffen sich teils politisierende, teils müßige
Männer im Hof des Ateliers: SPD-Kreistagsabgeordnete, Juden, ja sogar
der Trommler eines SA-Musikkorps, der unter seinem braunen Hemd
eingefleischter Nazi-Gegner ist.
Da wird auch schon mal Unsinn gemacht, die ganze Meute zieht trommelnd
und skandierend durch den Hof – zum Mißfallen eines »guten Deutschen« in
der Nachbarschaft. Und selbst wenn die Nazis meinen, man solle die als
»katholische Kommunisten« bekannte Clique »einfach gehen lassen« – ein
befreundeter SA-Mann warnt die Gruppe vor einem geplanten Überfall. »Da
hat der Onkel die Kapp' aufgesetzt und ist dann los mit seinen kurzen
Schrittchen – wir sind in alle Winde«, berichtet Heinz Müller-Olm.
Die Wirtschaft zur Schönen Aussicht wird an Fassenacht »Mucker-Höhle«3 genannt. Man weiß, daß die Mettens mit den Braunen nichts zu tun haben wollen.
Die Bedrohung wächst. Politisch Unliebsame werden in KZs verbracht. Der
Kreis um Jean Metten ist viel zu gut informiert, um nicht zu wissen,
wohin die Reise geht. Man liest die »Rhein-Mainische Volkszeitung«:
Dirks, Kogon, Knappstein.
Wie die Braunen schon im März 1933 wüten, wird eindrucksvoll von einer
Frau erzählt, die als Hausmädchen im Hause Leopold Kramers arbeitete –
beim Mitbegründer des Holzamer-Bundes und Freund Jean Mettens, einem
Juden:
»Der Leopold hat immer samstags abends die Zeitung gelesen und ist
nachher hinüber in die Brauerei. An diesem Samstag auch. Und wir sind ja
dann schlafen gegangen. Ich hab' oben geschlafen. Und die im ersten
Stock. Und auf einmal höre ich wie es klopft: ›Polizei, Polizei.‹ Und
seine Schwester rief: ›Leopold, aweil ist die Polizei da.‹ Da ist sie
nichts wie hinunter. Und sie haben aufgemacht, sonst hätten sie die
Fensterscheib ...
Und da sind sie die Treppe hoch, in die Schlafstube. Und er hat bei
seinem Vater geschlafen und er war höchstens eine halbe Stunde da – er
ist immer so gegen elf gekommen – daß er gerade im Bett gelegen hat. Und
da höre ich, wie die die Treppe hinaufgehen und gehen in die
Schlafstube hinein und sagen: ›Heraus mit dem Kerl, heraus‹, und da hat
der Vater gesagt: ›Na was wollt ihr denn?‹ ›Heraus, der muß heraus, der
muß mit.‹ Und da wollten sie ihn noch nicht seine Schlappen, also das
Nachthemd hatte er ja an, und wollten ihn noch nicht einmal die
Schlappen anziehen lassen. Und da hat der Vater gesagt: ›Laßt ihn doch
wenigstens seine Schlappen anziehen.‹ Und da ist er also auch mit den
Schlappen ab – also nix wie hinaus.
Und seine Schwester und ich, wir haben unten in der Wohnstube gehockt und haben gewartet bis er kommt.
Also es war 2 Uhr, und auf einmal klopft es. Und da hat er gesagt: ›Mach
mir auf, ich bin's!‹ Und da hat er ausgesehen – ich kann Ihnen nur
sagen: die Augen haben geglitzert. Man meinte, die Augen würden
rausfallen, so war er aufgeregt. Und da hatten sie ihn abgezogen4.
Da hat er gesagt: ›Da können sie gucken wie ich aussehe.‹ Da hatten sie
ihn geführt bis hoch ans Wasserhäuschen, und dort haben sie ihn
abgezogen und haben ihn gehen lassen. Und hat aber vor 2 Uhr nicht
heimkommen dürfen. Sie haben ihm gesagt: ›Wehe dem, wenn du vor 2 Uhr
heimkommst, und da holen wir dich noch einmal.‹ Und die Kirchenuhr hat 2
geschlagen und da hat er geklopft an der Tür. Und da hat er gesagt: ›Da
guck, wie sie mich zugerichtet haben. Aber eines sage ich Ihnen. Wenn
der Krieg aus ist, Sie wohnen ja da hinten. Da vorne am Telegrafenmast
hänge ich sie alle auf.‹«
Nach einem Vorfall 1935 wird Jean Metten, der ohnehin kein mutiger
Bekenner ist, gänzlich still. Das Erntedankfest wird von der Partei zu
großen Aufmärschen benutzt, und Metten sagt bei der Weinlese: »Die
würden besser die Stare vertreiben, als im Dorf herumzuziehen.« – Die
Bemerkung wird weitergetragen, und nur weil der Denunziant, als es gilt,
die Anklage und ihre Folgen zu vertreten, seine Aussage relativiert,
bleibt dem Maler das KZ erspart.
Dennoch: Mit »Heil Hitler« grüßen die Mettens weiterhin nicht, und in
die Kirche gehen sie auch. Ohnehin ist das mit dem Nationalsozialismus
in Nieder-Olm so eine Sache. Bei einer Fronleichnamsprozession zum
Beispiel stellt sich ein Braunhemd spottend und grölend der Menge
entgegen. »In Null-Komma-Nix hatten dem die Prozessionsteilnehmer in die
Fresse gehauen.« – Folgenlos.
Doch der braune Zeit-Ungeist zwingt die Mettens in die Defensive. Und
sie empfinden es als persönliche Niederlage, daß auch sie zu Freunden
und Bekannten auf Distanz gehen müssen, wollen sie das eigene Leben und
die Existenz der zehnköpfigen Familie nicht aufs Spiel setzen.
Bei Sammlungen für NS-Organisationen steht Andreas Metten immer als
nobler Spender in den Listen. Er gibt genau das, was ihm von den neuen
Machthabern für seine sechs deutschen Kinder als Kindergeld zugestanden
wird. Obendrein leistet er es sich, einen Mann kurzfristig einzustellen,
der aus einem linientreuen Betrieb gefeuert worden war.
Bei Jean bewirkt der äußere Druck vor allem eines: er geht in die
»innere Emigration«. Ein tatkräftiger, aktiver Mensch war er ohnehin nie
gewesen. Jetzt, da man nicht nur mutig, sondern fast tollkühn sein muß,
jetzt ist von ihm erst recht kein lautes Wort in der Öffentlichkeit zu
hören.
Seine Kunst würde gut zum offiziellen Reichskunstbetrieb passen. Doch
der Reichskunstbetrieb paßt nicht zu ihm. Jean Metten ist nie versucht,
die Tendenzen auszunutzen, um Geld und Anerkennung zu erlangen. Das
Leben wird zur Qual, der Zeitgeist stößt ihn ab. So macht er das gleiche
wie der Bruder Andreas: Er widmet sich der Familie, den Kindern.
Debattiert höchstens im vertrauten Kreise und versucht durchzukommen.
Die Augen verschließt Jean Metten freilich nie. Sehr genau registriert
er, wer was tut, welche Zusammenhänge sich ergeben. Wie als Soldat im
Ersten Weltkrieg, so fällt es ihm auch jetzt sehr leicht, aus
offizieller Propaganda die Wahrheit herauszufiltern. So weiß er um
Konzentrationslager für politisch Andersdenkende und ist auch im Lauf
der Entwicklung früh über die Vernichtungslager informiert. Der Satz:
»Wir haben nichts gewußt«, kommt nie aus seinem Mund. Er stellt sich
später höchstens die Frage: »Was hätte ich tun können?« Und beantwortet
sie in seinem moralischen Rigorismus, der sich so völlig von seiner
tatsächlichen Kraft unterscheidet, daß er sicherlich mehr hätte tun
können – theoretisch. Denn der sanfte, behutsame Mann, der sein Leben
damit verbringen will, Gottes Schöpfung zu ehren, ist vom Naturell her
nicht dafür geschaffen, zu kämpfen. Er betet zu Gott und lebt in der
Familie.
Seine Arbeit ruht zwar nicht ganz, doch ist der Elan gebrochen. Wieder
droht die Welt in Scherben geschlagen zu werden, wieder kehrt sich alles
ab von Gott.
Und wieder ist es sein unerschütterlicher Glaube, der ihm durch die Zeit
hilft. In die Kirche geht er weiterhin jede Woche. Auch wenn
währenddessen draußen provozierend Lärm gemacht wird oder Kirchgänger
notiert werden, dieses Risiko nimmt er auf sich. Denn für sein
Seelenheil wäre es riskanter, würde er nicht mehr die Messe besuchen.
Die wenigen verbliebenen Freunde verkehren nach wie vor im Hause Metten.
Für die Kinder ist es immer ein Ereignis, wenn der blinde Bildhauer
Schmitt sie mit den Händen erkennt oder der nun beruflich eingeschränkte
Richard Knies im Hause liest.
Solange es geht, hält Jean Metten den Kontakt zu Juden aufrecht. Die
Nichte Barbara erzählt: »Bei Bergers, Zigarrenhändler, da waren wir
sogar noch, als die die Judensterne anhatten. Da war ich auch mal mit
dort. Wir sind dreimal drum rum – und als niemand da war, sind wir
reingeschlüpft.«
Doch lange ist der Kontakt nicht aufrecht zu erhalten. Viele jüdische
Freunde verlassen rechtzeitig das Land, auch manche Arier, die auf ihre
Rasse beileibe nicht stolz sind, sondern als politisch Andersdenkende
dem Unheil entfliehen. Metten bleibt. Er wird nach dem Krieg mit einer
ganzen Reihe von ehemaligen Nieder-Olmern Kontakt aufnehmen. Doch jetzt
bleibt er. Weg von seinem Heimatort? – undenkbar. Undenkbar auch,
nachdem die Mutter, 85jährig, am 11. November 1935 stirbt.
Der Tod der kranken Mutter trifft Jean Metten offenbar nicht allzu
schwer. Zwar: die Mutter, tief geliebt, steht ihm sehr nahe. Doch der
gläubige Christ weiß, daß nach dem irdischen Leben etwas Neues kommt.
Die Mutter aber hat ihr Leben auf Erden abgeschlossen.
Das Leben in der Familie dreht sich um die sechs Kinder. Der Onkel malt
sie, zeichnet sie, erfreut sich an ihrem Heranwachsen. Er ist für sie
ein Vater-Ersatz. Denn der Bruder Andreas legt Wert auf Zucht und
Ordnung. Er hat sein weiches Herz unter einer rauhen Schale und ist den
Kindern gegenüber unnachgiebig, ja unnahbar. Allenfalls die Älteste,
Apollonia, kann ihren Vater um den Finger wickeln. Sie ist die
Lebhafteste der Geschwister, die sich vom Vater unverstanden fühlen.
Der Onkel bildet hier den Ausgleich. Er spielt mit den Kindern, indem er
zum Beispiel eine Decke nimmt, sie um einen Tisch hängt und die Kinder
sich darunter jetzt ein Häuschen einrichten können. – Als der Vater
kommt, wird alles wieder zusammengeräumt.
Der Onkel sorgt auch für Märchenbücher im Haus: Grimm, Andersen, Hauff.
»Er war kein Onkel zum Vorlesen, aber er hat sich gerne mal in eine
Märchenwelt versetzt.« – Er kauft Sammelalben mit Zigarettenbildchen und
klebt sie für die Kinder ein. Er spielt Ersatzpate bei der Nichte
Barbara, deren Patin früh stirbt. Damit das Mädchen an Weihnachten auch
etwas »vom Geetche« bekommt, kauft der Onkel Geschenke. Er hilft sogar
bei den Schulaufgaben:
»Vater hat nur geguckt, ob's richtig war. Wenn wir was nicht gewußt
haben, saßen wir da wie die verlorenen Blümelchen und warteten, bis der
Onkel kam. Der ist immer schön still gekommen, hat Zeitung gelesen, und
dann sagte er: ›Wo kaust du denn wieder 'rum. Was klappt denn da nicht?‹
– Er hat auch alles gekonnt. Und wenn er's nicht konnte, sagte er: ›Das
finden wir.‹ ... Der Onkel hat uns schon als Kinder gesagt: ›Euer
bester Helfer, wenn ihr niemand habt: der Herder.‹ Der war immer auf dem
Tisch.«
Wenn der Onkel aus Mainz kommt, wo er Malbedarf einkauft, dann bringt er
den Kindern Schokolade mit. »Er hatte so'n Riegel, da waren sechs
Rippen dran. Die hat er auseinandergebrochen. Da hat jeder ein Rippchen
Schokolade gekriegt. Das war ein Fest. Das haben wir von unserem Vater
nicht gekriegt. Der hat noch geschimpft, wenn uns die Mutter fünf
Pfennig für Eis gab. Das war verschwendet.«
Körperliche Züchtigung ist den Kindern fast unbekannt – fast. Der Onkel
schlägt keinen, noch nicht mal hinter die Ohren. Der Vater nutzt höchst
selten, dann aber kräftig, »die Kawaatsch«5 als Erziehungsmittel.
Das Leben im Haus ist trotz der Zeitumstände idyllisch-familiär und
religiös. Die Tante ist schon morgens um 6 Uhr in der Kirche.
Regelmäßiger Kirchgang, sonntags gar zweimal, ist für die Kinder
Pflicht. Daheim werden Marienlieder gesungen. In der Weihnachtszeit
sitzt man zusammen, die Mädchen spielen auf der Flöte. An Weißen
Sonntagen wird besinnlich gefeiert, der Pfarrer des Ortes ist Gast.
Zu Gast sind auch weiterhin die Künstler-Freunde: Maria Ziegler und
Alterskameraden wie der spätere Oberbürgermeister von Bad Homburg, Karl
Horn, der Tierarzt Striegler, dessen Vater Amtsgerichtsrat war, und
einige mehr. Die Brüder Metten leben den Grundsatz »Dein Freund ist mein
Freund«. Doch bei allen Gemeinsamkeiten gibt es auch Gegensätze im
Umgang mit den Mitmenschen. Andreas meint: »Sage mir, mit wem Du
umgehst, und ich sage Dir, wer Du bist.« – Wenn einer ein klein wenig
Dreck am Stecken hat, ist sofort ein Abstrich da. Der Maler ist weitaus
toleranter und weicher.
Das zeigt sich in scheinbaren Nebensächlichkeiten. Wenn geschlachtet wird im Betrieb, dann geht er weg.
So ein Schlachttag ist ein Festtag, denn die gute Wurstsuppe wird in der
ganzen Nachbarschaft verschenkt. Ehrensache, daß für jedes Kind in der
Nachbarschaft auch ein Leber- oder Blutwürstchen in der Suppe schwimmt.
Auch wenn es ihnen selbst nicht gerade fürstlich geht, teilen ist für
Mettens kein Fremdwort.
Die Kunst von Jean Metten ruht freilich. Nur wenige Bilder entstehen. So
sieht er einmal die drei Nichten Apollonia, Barbara und Elisabeth aus
dem Dorf die Pariser Straße entlangkommen. Er schickt sie wieder und
wieder gemeinsam los oder paßt ihren Schulweg ab, um sie zu malen. Die
Mädchen müssen auch öfter Modell sitzen – aber großes Schaffen ist ihm
nicht mehr möglich.
Der Maler hackt eher Holz oder häckelt im Garten, als daß er in dieser
bedrohlichen Zeit zum großen künstlerischen Wurf ausholt. Der über
50jährige hat längst kauzige Gewohnheiten, die den Kindern aufstoßen:
»Bei der Johannistrauben-Ernte hat er immer die Schönsten aus der Spitze
rausgeholt und gesagt: ›Die sind am meisten in Gefahr, die muß ich
zuerst roppen.‹ Wir mußten die Kleinarbeit machen und er hatte immer
sein Körbchen voll.«
»Im Herbst kam er nach dem Essen mit Birnen und hat uns nach dem
Mittagessen eine gegeben und wunder was getan, was das für ein Nachtisch
wär.«
Überhaupt, die Tischgewohnheiten: Des Mittags ißt die Familie –
zehnköpfig – gemeinsam das karge Mahl. Und der Onkel will so etwas wie
Tischgespräche führen: »Das müssen die lernen, in großer Gesellschaft
ist das so.« Sein Bruder Andreas ist dagegen: »Sei doch mal still, die
sollen essen.« Natürlich setzt sich Andreas durch.
Meinungsverschiedenheiten zwischen den gut harmonisierenden Brüdern gibt
es also auch. Sogar manchmal, wenn politisiert wird. Obwohl es sich nur
um kleine Unterschiede handeln kann, denn im Prinzip sind sich die
beiden einig. Es kann bei Diskussionen trotzdem vorkommen, daß der Onkel
irgendwann mit den Worten: »Do leck mich doch am Dooges« in sein Zimmer
abzieht. Am anderen Tag sind sich die Brüder deshalb aber nicht gram.
Sein Zimmerchen teilt der Maler mit der Schwester, getrennt durch einen
Vorhang. Die Schwester sorgt auch dafür, daß der Bruder die Wäsche
wechselt – da gibt es Wortduelle, wie sie in vielen Ehen gang und gäbe
sind. Fast schon Rituale, ohne die die Beteiligten nicht mehr auskommen:
»Tante war sehr reinlich, Onkel das Gegenteil. Der hat mal ein bißchen
Wasser um Arme und Ohren gemacht – das war ein ewiger Kampf mit der
Tante. Die hat geschimpft. Sie hat immer gesagt: ›Das ist man seiner
Menschheit schuldig, daß man sauber daherkommt.‹ Sie hat Onkel immer
bemerkelt. Er, wohl aus Kontra, hat dagegen gemacht. Onkel sagte, wenn
Tante guckte: ›Mach doch net so Stielaugen.‹«
Ein Ritual auch, wenn die Schwester den Bruder zur Mahlzeit ruft:
»Schoo« (Jean) ertönt es dreimal in steigendem Ton. Nur bei der
Hauptmahlzeit ißt der Onkel mit der Familie. Ansonsten hat er es sich
angewöhnt, im Stehen zu essen: »Er steht am Küchenschrank und muffelt
sein Frühstück. Hat 'ne Tasse mit Milch darin. Da tunkt er auch mal ein
Brot rein. Wenn Butter da ist, macht er ein bißchen Butter drauf, wenn
nicht, dann halt nicht. Käse ißt er sehr gern – den macht Tante immer
selbst. Das ist ein Fest für die Familie, auch wenn für jeden nur ein
kleines Klümpelchen abfällt.«
Im Feld hilft der Maler kaum noch. Sein Elan ist gebremst – er versucht zwar, in den Alltag zu fliehen, doch er kann es nicht.
Braune Aufmärsche, politische Unfreiheit, Verlust der Freunde bestimmen
das Leben. Die täglichen Gewohnheiten ändern sich. Zudem werden Mettens
gefordert: als Helfer. Bei einer Kommunionfeier in Nieder-Olm hat ein
Bürger das Bildnis Adolf Hitlers auf den Boden gestellt – für die
Feierlichkeiten war das Zimmer umgeräumt worden. Als ein Gast fragt,
wieso das Bild da an der Wand stehe, antwortet der Gastgeber: »Den
Hitler kann man eben an die Wand stellen oder aufhängen.« – Der Mann
wird abgeholt, seine jetzt mittellose Frau, die mehrere Kinder
durchfüttern muß, erhält im Hause Metten eine Anstellung. Hilfe und
Nächstenliebe sind nach wie vor keine leeren Worthülsen bei Mettens.
Die Kinder empfinden das zum Teil als große Ungerechtigkeit, wenn für
die Gäste der beste Schinken gerade gut genug ist, wo doch an normalen
Tagen zu den Pellkartoffeln ein kleines Fetzchen Wurst gereicht wird.
Mit den Kindern ist vorsichtig umzugehen. Sie müssen richtig erzogen
werden. Dabei ist zu vermeiden, daß sie draußen etwas ausplaudern. »Wir
gewinnen doch«, sagt ihnen ihr Onkel. Wie das auszulegen ist, bleibt
jedem selbst überlassen.
Der Krieg tobt und Mettens haben Glück, daß Jean und Andreas zu alt
sind, Andreas' Sohn Johannes zu jung ist, um eingezogen zu werden.
Jean Metten tröstet die vielen Bekannten, deren Angehörige für Führer,
Volk und Vaterland marschieren müssen. Er weiß Bescheid. Ein Radio hat
er zwar nicht, doch gute Freunde hören Feindsender ab, und der Maler ist
– wie immer – voll informiert. Sein Wissen freilich nutzt nur dem
eigenen Gedankengang. »Widerstand« ist etwas, das nie in Frage käme.
Jean Metten ist kein Held. Auch wenn er sich aus Wien von Bruder Stephan
viele Bücher schicken läßt, die von den Klosterbrüdern auf offizielle
Weisung hin eigentlich hätten verbrannt werden müssen. So etwas fällt
unter die Rubrik Hilfe.
Hilfe gibt's auch für die Familie Knies und den Bildhauer Jakob Schmitt,
die nach dem Bombardement auf Mainz ins Atelier ziehen. Ein paar
Matratzen, ein paar Decken, irgendwie geht alles. Andreas Metten sorgt
dafür, daß immer etwas zu essen da ist.
Jean Metten ist als Künstler registriert und wird aufgefordert, in Mainz
die Zerstörungen durch die alliierten Bomber im Bild festzuhalten. Wie
sich dem offiziellen Auftrag entziehen? Die Nazis rechnen zu dieser Zeit
– 1942 – noch damit, daß Mainz als zerstörte deutsche Stadt ein
Ausnahmefall ist. Sie wollen die Brutalität der Gegner auch von
Künstlern festgehalten wissen. So fährt Metten nach Mainz und fertigt
sechs Federzeichnungen, in denen er einfach darstellt, was ist: Mainz,
zerstört.
Bei der großen Gau-Ausstellung im September 1943 in Frankfurt werden die
Werke von vielen Mainzer Künstlern in einer Sonderschau »Das zerstörte
Mainz« präsentiert. Bilder, auf denen Hitlerjungen die Fahne des
tausendjährigen Reiches schwenken, finden Beachtung. Die Blätter Mettens
sind in der Besprechung der Mainzer Zeitung kaum berücksichtigt.
Pflichtgemäß formuliert die Chronistin im letzten Satz eines groß
angelegten Artikels: »Die Sonderschau wird durch eine Reihe guter
Arbeiten von Sophie Grosch, Franz Weber, Jean Metten (Nieder-Olm),
Hedwig Mauder, Frieda Best, Hermann Edelbauer und Heinrich Seck-Carton
geschlossen, die Erlebnistiefe und die überall spürbare Liebe zur Heimat
ausdrücken.«
Auf Jean Metten bezogen, ist das noch nicht einmal gelogen. Der Maler
liebt seine Heimat. Doch die Blätter zeichnet er, um möglichst elegant
die für ihn damit verbundenen Schwierigkeiten zu umgehen.
Diese drohen noch einmal ganz unmittelbar kurz vor Kriegsende. Am 1.
Juli 1944 erhält Jean Metten, wohnhaft Hindenburgstraße 41, seinen
Bereitstellungsschein: » ... haben Sie in absehbarer Zeit mit Ihrer
Einberufung zu rechnen, und zwar innerhalb einer kurzen Zeitspanne.«
Der 60jährige sieht seiner zweiten Einberufung entgegen. Nicht viel
besser ergeht es dem Neffen Johannes. Der, Jahrgang 1929, soll ebenfalls
einrücken in den letzten Tagen des Krieges. Die Amerikaner kommen
Hitler zuvor. Über das Ende des Zweiten Weltkrieges für Nieder-Olm
berichtet Mettens Nachbar Anton Weisrock:
»Es war so zwei Tage vor Kriegsende. Da stehen wir am Tor der
Hubertusmühle, Metten, Hubertus und ich. Die Amis waren schon bei
Sprendlingen. Wir hatten mit Soldaten, die zurückkamen, Kontakt
aufgenommen. Wir haben einen gefragt: ›Besteht Gefahr für die
Bevölkerung? Ist was zu erwarten?‹ Er sagte: ›Ach was, wenn die Leute
sich nicht wehren, passiert nichts.‹ ... An einer großen Scheune waren
SA-Propaganda-Sprüche mit Ölfarbe. Onkel fragte: ›Was machen wir nur
damit?‹ ›Ami bleib daheim, der Russe ist schon in Berlin‹ – stand da auf
englisch. Das hatte er (Jean Metten) sich übersetzen lassen. ›Das muß
doch weg. Stell Dir vor, wir wohnen da – und da vorne diese
Propagandaschrift – die schießen unsere Häuser kaputt.‹ Ich wollte es
nachts abmachen, aber es ging nicht. Ich hab's dann mit Lehm gemacht.
Und Onkel Jean war überglücklich, daß es weg war ...
Es war nachmittags, nach fünf, als die Amis vom Ort, von der
evangelischen Kirche her, gekommen sind. Und Onkel Jean, ich hab' das
gar nicht gemerkt, ist aus dem Keller der Hubertusmühle wieder
hochgegangen, rüber in sein Haus. Und hatte da schon die Stange liegen
mit einer weißen Fahne: Bettlaken. Er hat das am Fenster rausgehängt.
Und dann kam er rüber: ›Schnell, schnell, die weiße Fahne raus, die Amis
kommen.‹ Ich hatte da nie dran gedacht. Bin in den Keller: ›Schnell ein
paar Windeln her‹, die hab ich ans Tor gesteckt ... Es war klar: die
Amis machen nix.
Nur der Onkel Jean ist hin und her gewandert. Der hatte keine Ruh' im
Bauch. Der war so aufgeregt, der hat's gar nicht abwarten können. Er hat
immer gesagt: ›Wer die Kirche angreift und die Juden angreift – das
kann gar nicht gut gehen –, der ist dem Untergang geweiht.‹«
Der Krieg ist aus. – Das tausendjährige Reich nach zwölf Jahren
zusammengebrochen. Diese zwölf Jahre können für das Schaffen von Maler
Metten als Verlust abgebucht werden. Es ist eine einfache Rechnung:
Jugend im bäuerlichen Elternhause, Erster Weltkrieg und das Nazi-Regime
kosten den Maler zusammen 25 Jahre seines künstlerischen Lebens und
Schaffens.
Jean Metten ist jetzt 61 Jahre alt und hat zunächst Probleme eigener
Art. Ende der 20er Jahre hatte er 88 seiner Radierplatten einer Berliner
Firma überstellt. Die Druckerei Felsing sollte bei Bedarf Abzüge der
Radierungen liefern. Die Platten wurden im Krieg zerstört. Damit ist
Jean Mettens Plan, sie zur Altersversorgung zu nutzen, dahin. Zerstört
wurden die Dom-Radierungen, von denen er noch einige Abzüge in
Nieder-Olm besitzt. Zerstört wurden aber auch Werke, die er lediglich in
einem halben Dutzend Probeabzügen vorliegen hat. Sie sind
unwiederbringlich verloren. Genauso fiel ein Teil der Ölgemälde, die in
den 20er Jahren in Mainz verkauft worden waren, dem Bombenhagel zum
Opfer.
Metten nimmt den Verlust gelassen hin. Man hätte in den vergangenen
zwölf Jahren viel mehr verlieren können, als nur seine Altersversorgung.
Er ist jetzt vom ersten Tag an damit beschäftigt, die Vergangenheit
aufzuarbeiten. Er sucht – und findet – Kontakt zu ehemaligen Freunden im
Ausland. Er schreibt ihnen vom Deutschland der Nachkriegszeit und
versucht, den Nieder-Olmern in der Fremde eine private Wiedergutmachung
zu geben. Er verschickt Aquarelle, Ölgemälde. Die Juden und politisch
Verfolgten sollen ein Andenken an die Heimat haben. Einer von ihnen, der
schon zitierte Leopold Kramer etwa, kehrt nie mehr nach Deutschland
zurück. Zerfressen vor Heimweh stirbt er in Südamerika.
Doch noch etwas versucht Jean Metten zu erreichen: den Leuten draußen
klar zu machen, daß Nazis und Deutsche nicht das gleiche sind. Liesel
Groß, 1936 aus Nieder-Olm in die USA geflohen, schreibt: »Herr Metten
schickte mir auch zwei Bücher nach dem Krieg. ›Anne Frank‹ und ›Die
weiße Rose‹. Wir sollten nicht denken, daß alle Deutsche Nazis waren!«
Der Maler sammelt alle Informationen. Er will von Augenzeugen wissen,
welche Nazi-Mitglieder im Dorf bei welchen Schandtaten federführend
waren. Und er empört sich. Nach dem Einmarsch der Amerikaner ist zum
Beispiel kein Dolmetscher zu finden. Man nimmt schließlich einen, der
den Nazis nahe gestanden hatte. So etwas ärgert ihn. Er wird zwar nicht
aktiv, um Leute ihrer gerechten Strafe zuzuführen, aber er will die
Zusammenhänge kennen, um seine persönlichen Konsequenzen zu ziehen.
So gibt es in Nieder-Olm Familien, denen er mit ausweichenden
Begründungen nie Bilder verkauft. Die wahre Ursache ist, daß diese
Familien in brauner Zeit in Erscheinung getreten waren. Auch ein
Nieder-Olmer Unternehmen, das an Metten herantritt, um seine Bilder zu
Werbezwecken einzuspannen, erhält Absagen. Obwohl Jean Metten zu den
Eltern des betreffenden Firmeninhabers ein gutes Verhältnis hatte. Die
NS-Tätigkeit des Sohnes sieht der Maler nicht als Jugendsünde. Um sich
so zu verhalten, wie es die Nazis taten, muß man von innen heraus
schlecht sein, und von schlechten Menschen wendet sich Jean Metten ab.
Umgekehrt imponiert dem Maler echte menschliche Größe. Ein bekannter
Nieder-Olmer Kommunist etwa, jahrelang im KZ, bekommt keine
Entschädigung. Er ist – einfach so – für seine Überzeugung eingetreten.
Das imponiert Jean Metten: »Der Kerl gefällt mir. Der ist zwar Kommunist
und geht nicht in die Kirche ...«, aber charakterlich sieht er den
Mann, der gar keine Entschädigung will, als einwandfrei an.
Die Herrschaft der Amerikaner, und Wochen darauf der Franzosen,
empfinden die Mettens nicht als bedrückend. Zwar soll die Wirtschaft
wegen ihrer verkehrsgünstigen Lage geräumt werden, doch das wird nicht
durchgeführt. Auch weil man weiß, daß die Mettens mit den Nazis nichts
zu tun hatten. Die Wachposten kommen sogar ins Haus, um mal etwas zu
trinken, trotz Fraternisierungsverbot.
Wenn auch verärgert, so doch gelassen, nehmen es Jean und Andreas Metten
hin, wenn französische Soldaten sich ungeniert im Weinberg bedienen.
Zum einen sind sie natürlich auch jetzt keine Kämpfernaturen. Zum
anderen wissen sie aber aus ihrer eigenen Kriegserfahrung, was
Besatzungstruppen alles anrichten könnten.
Der Maler als Kunstlehrer – Angst vor Verpflichtungen
⇧
Die Wirren der Nachkriegszeit bringen etwas vollkommen Neues für Jean
Metten: er wird Kunstlehrer. Zwei junge Damen, die bei Heinz Müller das
Modellieren lernen, fragen an, ob Metten ihnen das Zeichnen beibringen
könne. Und so entsteht noch im Herbst 1945 eine kleine Privatschule. Der
Wirtschaftsbetrieb in der »Schönen Aussicht« war schon 1943 von den
Nazis stillgelegt worden, und nun haben die Besatzungsmächte auch den
Wein beschlagnahmt. Da gibt es Raum und Zeit genug, die Schule
aufzuziehen.
Allerdings ist es kein normaler Schulbetrieb. Die jungen Leute,
schließlich ein halbes Dutzend, bringen kein Schulgeld mit oder
entlohnen den Maler anderweitig. Im Gegenteil: In familiärer Atmosphäre
wird der Unterricht erteilt, und wenn es zum Mittagstisch geht, und
mancher Schüler aus ärgster Not heraus gerade ein armes Süppchen oder
ein paar Pellkartoffeln dabei hat, dann jagt die Schwägerin, Andreas'
Frau, die Kartoffeln erst mal durch die Pfanne. Die Schüler bekommen so
zum Unterricht auch etwas für den Magen dazu.
Jean Metten erscheint ihnen allen als angenehmer Lehrer. »Er machte
einen rheinhessischen Eindruck. Rheinhessen, die möchten sich gerne
unterhalten und wissen ... Er war ein bißchen listig. Mit so kleinen,
vergnüglichen Äugelchen. Als Lehrer ließ er einem seine Persönlichkeit.
Er ist ganz selten in die Arbeit reingefahren. Er hat immer nur erklärt:
›Hier, das sollte man vielleicht so machen, und da, gucken Sie mal, das
sieht anders aus ...‹«
Der Unterricht gestaltet sich einfach. Entweder wird eines von den
Kindern als Modell verpflichtet oder Metten stellt ein Stilleben
zusammen. Zur Kunst im allgemeinen äußert er sich dabei kaum. In seiner
ruhigen bedächtigen Art versucht er, den Schülern technisches Können zu
vermitteln. Hierzu Schülerstimmen:
»Er wollte keine kleinen Mettens aus uns machen.«
»Er hat nie in einer Zeichnung rumgefummelt. In ruhigem Ton hat er auf
Fehler aufmerksam gemacht. Das hat er sehr zart gemacht. Er war kein
Lehrer-Typ, er war kameradschaftlich.« (Johann Eckert)
»Im Urteil war er sehr zurückhaltend. Nur, wenn etwas gar zu schlecht
war, hat er ein Bonmot angebracht. Einmal hatte er Tusche-Fäßchen und
Pinsel auf einen Tisch gestellt. Das sollten wir zeichnen. Ich hab' mich
da n'en ganzen Morgen abgequält. Da kam er, er gab sehr wenig und
vorsichtig Korrekturen. Er guckte sich das an, guckt das Motiv an, guckt
wieder auf mein Blatt, schüttelt den Kopf. ›Sagen Sie mal, haben Sie
'nen Seh-Fehler?‹ Später hat sich bei einer Untersuchung herausgestellt,
daß ich tatsächlich 'nen Seh-Fehler hab. Er hat's intuitiv gesehen, hat
unheimlich genau beobachtet. Ich fragte: ›Ja, was ist denn da so
unmöglich?‹ Er: ›Ach, kommense doch mal her. Ich seh die Kante von dem
Tisch da ganz anders.‹ Die hat er richtig reingesetzt: Schon war das
Blatt gut.« (Friedel Jordan)
Jean Metten gefällt der Unterricht. Jungen Leuten sein Wissen zu
vermitteln, das ist nach zwölf Jahren totalen Unsinns in Deutschland
endlich wieder etwas Sinnvolles. Dennoch sind die Urteile der Schüler
zwiespältig. Einige machen so etwas wie Resignation bei ihm aus, auch
wenn der Unterricht dadurch nicht leidet.
Aber sein eigenes Schaffen geht nicht so recht voran. Metten braucht die
Schüler, um für sich wieder ins Reine zu kommen. Bei aller Bedrückung
blitzt sein hintergründiger Mutterwitz ab und an durch. Friedel Jordan:
»Einmal haben wir ein Stilleben gemalt. Blumenvase mit blauen Blumen.
Ich hab' mich da rumgequält mit Ölfarbe. Er hat nicht viel dazu gesagt.
Gefallen hat's ihm bestimmt nicht – er ließ aber jedem seine
Individualität. Er sagte: ›Ich will Ihnen was sagen. Kennen Sie den
Mainzer Maler Strecker? Wissen Sie, der hat gesagt: ›Sehen Sie da hinten
den blauen Schatten, den die anderen grün malen? – Den mal ich –
violett.‹ Das hat mir schlaflose Nächte bereitet.«
Solche Anekdoten zeigen den humorvollen Maler-Onkel, der auch schon mal
peinliche Situationen mit seinem Witz rettet. Gisela Bartels hierzu:
»Eines Tages kamen wir morgens da an. Und es war große Aufregung im
Hause Metten. Man hatte nämlich Hühner gestohlen. Wir nahmen natürlich
Anteil, das ist klar. Ich dummes Ding fragte dann, ohne mir etwas zu
überlegen: ›Mein Gott nochmal, wie viele Hühner sind Ihnen denn
gestohlen worden?‹ Worauf die ganze Familie schwieg. Es war absolutes
Schweigen mit großen Augen. Bis auf einmal der Onkel etwas listig sagte:
›Ach, wissen Sie, die Hälfte.‹ Das war der Metten.«6
Gesprochen wird beim Unterricht nicht allzuviel. Von seiner eigenen
Schulzeit erzählt Metten kaum. Nur, wenn er bei der Besprechung eines
Bildes die Schüler im Kreis um sich versammelt und – genau wie damals
bei ihm in Leipzig – nach den Erläuterungen eines Werkes sich zu den
Schülern umdreht und erklärt: »Und das gilt für Sie, für Sie und auch
für Sie.«
Manchmal nimmt der Maler die Schüler mit in die Wiesen, zeigt ihnen
seine Motive: Blumen, Landschaften. Mehreren seiner Schüler schenkt er
ganz spontan eine seiner Radierungen. Er schenkt neben seinem Wissen
seine Werke, weil für ihn Geben wirklich seliger denn Nehmen ist.
Doch geben will er nur freiwillig. Als 1946 in Mainz die Kunstschule
wiedereröffnet und der Mainzer Kulturdezernent und ein Museumsdirektor
versuchen, Metten als Lehrer zu gewinnen, da weicht er ängstlich aus:
»Nein, nein, ich kann das nicht.« Da schiebt er seine 60 Lebensjahre als
Hinderungsgrund vor und bleibt, wo er ist, in Nieder-Olm. Tatsächlich
würde ein Lehrbetrieb zuviel Druck ausüben auf den Mann, der sein ganzes
Leben lang still und bescheiden, aber frei, seiner Kunst frönte.
Noch ein weiteres Problem kommt auf Jean Metten in dieser Zeit zu. Ein
Problem, das die ganze Familie mehr als zehn Jahre beschäftigen wird:
Der älteste Neffe Johannes will ebenfalls Künstler werden. Sein Vater
Andreas hat nichts dagegen, daß Johannes an des Onkels Unterricht
teilnimmt, und der Onkel ist stolz auf den Neffen. Friedel Jordan: »Ich
hab' bis in die Augenlichter Portraits gezeichnet. Da sagte Metten: ›Da,
gucken Sie mal, wie der Johannes es zeichnet.‹ Der warf mit großzügigen
Strichen ein Portrait hin.«
Doch eines ist für den Vater Andreas Metten klar. Er hat einmal
mitverfolgt, wie ein Künstler den Durchbruch nicht schaffte, wie – trotz
allen Talentes, trotz aller sehr guter Werke – der Künstler im
eigentlichen Sinne Sozialfall blieb. Abgesichert durch sein, des Bruders
Mäzenatentum. Nicht nur, daß Andreas Metten für seinen Sohn keinen
ebenbürtigen Mäzen sehen kann, er will einfach nicht, daß sich ein
ähnliches Schicksal zum zweiten Mal in der Familie vollzieht. Jean sieht
das anders. Er weiß, daß er – einmal mehr – die Interessen eines der
Kinder seines Bruders vor dem Vater vertreten muß.
Den Maler erfüllt es mit Stolz, daß der Neffe – wie Jean es empfindet –
in seine Fußstapfen treten will. Die Parallelen sind zunächst auch allzu
deutlich. Da ist der landwirtschaftliche Betrieb, den der alte Andreas
nicht alleine weiterführen kann und will. Da ist der älteste Sohn, der
deshalb notgedrungen in Feld und Weinberg arbeitet und wartet. Hofft,
daß der jüngere Bruder Andreas bald aus der Schule kommt, um den Betrieb
zu übernehmen.
Der Vater wehrt sich mit aller Macht gegen des Sohnes Berufsziel, und
der Onkel hält dagegen, so gut er kann. Den Neffen zu fördern, das ist
sein Herzensanliegen. Schon 1946, als Johannes in der Privatschule des
Onkels mitzeichnet, erweist sich, daß sich Jean als Onkel, Vater und
Lehrer von Johannes empfindet. Johannes erzählt:
»Da gab's eine Auseinandersetzung zwischen dem Mainzer Maler Teo
Gebürsch und dem Onkel. Teo Gebürsch ist zu Besuch gewesen, der Onkel
kam durch Zufall dazu – und zwischen den beiden war eh ein bißchen
gespanntes Verhältnis. Der Gebürsch würde mich sofort als Schüler
nehmen, ohne die Vorschule vom Onkel, die nur akademische Stoffe
beinhaltete. Geh ich durch die Schule vom Onkel, nimmt mich der Gebürsch
nicht mehr, dann bin ich verdorben. Und der Onkel hat genau umgekehrt
argumentiert: ›Wenn er durch meine Schule gegangen ist, kann er zu dir
kommen, dann kann ihm nichts geschehen.‹ Das war 'ne Generationsfrage,
aber 'ne entschiedene Konfrontation der künstlerischen Standorte. Ich
mußte mich damals nicht entscheiden. Ich war Gast ein bißchen beim Onkel
und später auf der Landeskunstschule.«
Bis es soweit ist, vertritt der Maler Johannes' Interessen und sorgt sich um die Finanzierung der Ausbildung.
Nicht nur das, auch den anderen Kindern hilft er, wo er nur kann. Den
Nichten Barbara und Maria ermöglicht er in kurzem Abstand Reisen nach
Rom. Er mahnt die jungen Leute an, mit offenen Augen durch die Welt zu
gehen und freut sich an den Erzählungen der Heimkehrenden. Horizont
erweitern, Glauben stärken – der Maler sorgt sich um die Kinder des
Bruders, als wären es seine eigenen. – So empfindet er es und so wird er
auch angenommen: »Unser Onkel war wirklich in allen Situationen der
rettende Engel.«
Zum ersten Mal treten in dieser Zeit auch körperliche Gebrechen ein. Es
geschieht am Tag der Verlobungsfeier der Nichte Apollonia: » ... da ist
er verschwunden und kam wie lange nicht. Da war er im Hof umgefallen und
war bewußtlos. Dann kam er und hat gesagt: ›Ihr Kinder, ihr werd's net
begreifen, mir war's ja schlecht. Ich hab langwegs auf dem Hof gelegen
und der Tirras (der Hund des Hauses) hat mich wach geleckt.‹«
Es ist der Beginn einer Anämie und Leberzersetzung. Mit Aufbauspritzen
wird ihm geholfen. Zunächst genügt jedes halbe Jahr eine, später wird er
sie alle vier Wochen benötigen.
Die Krankheit kann Jean Mettens Lebenszufriedenheit nicht nehmen. Er ist
mit sich und Gott im Reinen und arbeitet auch an den beiden so lange
geplanten Zyklen: Kreuzweg und Würzwisch.
Der Bruder dagegen bleibt ein äußerlich immer mehr verbitternder
Zeitgenosse. Mit dem gelebten Leben unzufrieden, weil der Maler den
Durchbruch erst gar nicht angestrebt hat, und damit sein – Andreas –
Lebensziel nicht erreicht ist. Und nun droht der Sohn, die gleiche
Laufbahn einzuschlagen.
Dieser reagiert auf die schweren Konflikte um seinen Berufswunsch mit
Krankheit. Doch der Onkel stärkt ihm den Rücken. Ein anderer
Schicksalsschlag trifft jedoch das Mettensche Haus.
Die älteste Tochter Apollonia, erklärter Liebling des Vaters und
treibende Kraft der Geschwister, wird 1953 unweit des Elternhauses von
einem Auto überfahren. Ihr Söhnchen Wolfgang überlebt – sie selbst
stirbt nach wenigen Stunden.
Das bricht den Vater Andreas endgültig. War er ohnehin ein schwer
zugänglicher, mit sich und der Welt ringender Mensch, der die Seinsfrage
wieder und wieder stellte, so streckt ihn dieser Schicksalsschlag
nieder. – Der Bruder Jean verarbeitet den Tod der geliebten Nichte
stiller, doch auch an ihm nagt es. Unbeschwert ist in diesem Haus keiner
mehr.
Der Vater, der täglich von der Wirtschaft aus die Unfallstelle sehen
kann, will raus, will sich irgendwo neu einquartieren. Seine Umbaupläne
zum 75. Jubiläum der Wirtschaft verschwinden wie seine Lebensfreude.
Als die Tochter zu Grabe getragen wird, ist der Onkel nicht dabei. Jean
Metten hat eine große Abneigung gegen Friedhöfe. Religiös wie er ist,
kann er sich dennoch mit der Atmosphäre von Friedhöfen nicht anfreunden.
Tief im Inneren gelingt es ihm offenbar nicht, den »Gottesacker« als
friedvolle Zwischenstation vom irdischen zum himmlischen Leben zu
betrachten. Trotz seines Glaubens hat er Angst vor dem Tod. Und da
dieser so unversehens ein blühendes Leben aus der Familienmitte gerissen
hat, leidet der Maler still für sich.
Von den familiären Schlägen unbeeinflußt ist Mettens weiteres Schaffen
sicherlich nicht. Aber sein Auftreten der Öffentlichkeit gegenüber wäre
wohl auch ohne diese Ereignisse so scheu und zögerlich gewesen, wie es
war.
Es gelingt tatsächlich, ihn zur Teilnahme an einer Ausstellung zu
bewegen. In Alzey wird 1953 die Schau »Unser Rheinhessen« präsentiert.
Es stellen aus: Heinz und Alfred Mumbächer sowie Jean Metten. Es ist
schon außergewöhnlich, daß sich Metten zu dieser Zeit mit Werken der
Öffentlichkeit präsentiert, wer weiß, wer ihn wie lange dazu bekniet
hat.
Aber zur Eröffnung reist Metten nicht an. Er flüchtet sich in
Krankheiten, die allerdings nur vorgeschoben sind. Er mag keinen Rummel
um seine Person, und so muß sich die Alzeyer Zeitung mit dem Hinweis
begnügen: »Heinz Mumbächer ... begrüßte auch im Namen seines leider am
Erscheinen verhinderten Kollegen Metten ...« Jean Metten ist nicht
verhindert, Jean Metten will nicht.
So sind sich Heinz Müller-Olm und der Neffe Johannes auch nicht sicher,
ob der Maler zu einer Ausstellung erscheint, die ihm ganz alleine
gewidmet ist. Zum 70. Geburtstag eine Werkschau im Gasthaus »Zum Engel«,
Nieder-Olm. Heinz Müller-Olm und der Neffe Johannes müssen die
Organisation übernehmen, suchen Bilder aus, hängen sie, laden ein. Jean
läßt sie gewähren und macht selbst kein bißchen.
Am Tag der Eröffnung sind sich die Familienmitglieder und Freunde denn
auch ungewiß, ob der Maler die wenigen hundert Meter von der Wirtschaft
»Zur Schönen Aussicht« ins Gasthaus »Zum Engel« gehen wird. Oder ob er
auch jetzt »am Erscheinen verhindert ist«.
Er kommt, setzt sich still in eine Ecke und freut sich. Die Ehrung im
heimischen Kreise, sie tut ihm gut. Die Ausstellung ist mit Liebe
ausgewählt und gehängt. Ein Quartett spielt Mozart, ein Kirchenteppich
sorgt für die richtige Atmosphäre im Tanzsaal der Wirtschaft. Die
Graphiken hängen im Vorraum, Portraits an der Rückbahn der Bühne,
rheinhessische Landschaften links und an der Fensterwand Aquarelle. Eine
große Fahne, ein schönes Ausstellungsschild und treffende einleitende
Worte von Hans Ulbricht, einem Mainzer Kunstkenner, besser repräsentiert
und trotzdem heimatverbundener hätte es kaum getroffen werden können.
Der Maler, der bei der Bild-Auswahl noch gebremst hatte: »Nein, nein,
das Bild nicht – und das ist auch noch nicht fertig«, sitzt jetzt da und
läßt das alles wohlgefällig geschehen. Aber schon das anschließende
Schinken-Essen im Hause Metten, bei dem er an der Kopfseite des Tisches
sitzen muß, ist ihm wieder fast peinlich. Das alte Lied: Anerkennung
freut ihn, er braucht sie. Doch er ist viel zu scheu, um sie in aller
Öffentlichkeit auch gerne hinzunehmen. Er wäre lieber dabei, ohne dabei
zu sein.
Die Ausstellung und der Tod der Nichte Apollonia ändern nichts am sehr
gespannten Verhältnis zwischen Andreas Senior und Johannes Junior. Denn
der junge Mann macht sich auf, seine künstlerische Laufbahn
einzuschlagen. Die Stimmung im Hause und die rührende Sorge, mit der
Jean dem Neffen nachhängt, lassen sich am besten in Briefauszügen
wiedergeben. Der Onkel schreibt:
Maria Lichtmeß 53
» ... Nun etwas Persönliches. Ich war 30 Jahre alt, 1914 – mitten im
Akademiestudium in Leipzig –, da kam der Erste Weltkrieg. Fast vier
Jahre Soldat. Und erst 1918 wieder nach Leipzig. Und das ging Millionen
so: 4, 5, 6 und noch mehr Jahre Soldat. Ich will Dir hiermit sagen, daß
Dir Zeit, viel Zeit zum Gesunden bleibt – und mach Dir keine Gedanken um
das Später. Dein Vater ist ein Grübler einerseits und mißtrauisch aus
überreichem Erleben. Und leidet selbst mehr darunter als Ihr es ahnet.
Und er ist um Dich besorgt, vielleicht mehr, als Du es für möglich
hältst. Eine übergroße Liebe und Sorge für Dich ist in dieser rauhen
Schale. Und aus lauter Liebe und Sorge macht er sich die unnötigsten
Sorgen. Die Folgen sind Bitterkeit, Unverstandenheit usw., usw. Bei
allem, was einmal sei – diese große Liebe und Sorge setze immer als
erstes Plus in Deine Rechnung – und das Resultat wird ganz anders sich
gestalten.«
»24/3/53 Lieber Johannes, wir erwarten Dich!
Wohl wird es bei Dir, der Du so lange fort warst, einige Beklemmungen
geben. Einen Rat: Komme vollgefüllt mit Optimismus. Bewußt böse will Dir
niemand sein. Dein Kranksein war eine große Prüfung – für uns alle auch
– möge sie uns zum Heile sein. Weiter Gott befohlen. Gute Wünsche und
frohes Wiedersehen. – Dein Onkel Jean und alle.«
Zweierlei will der Onkel. Den Bruch zwischen dem Neffen und der Familie
vermeiden und Johannes die Ausbildung finanzieren, obwohl es ihm schwer
fällt, die künstlerische Eigenständigkeit des jungen Mannes, der eine
ganz andere Generation und damit Kunstauffassung vertritt, zu
akzeptieren. Johannes zu einem Vorfall während der Studienjahre:
»Der Onkel hat sich über die Jahre als der letzte große Radierer
apostrophiert. Er war der Meinung, die Jugend interessiert sich für
diese Technik nicht mehr ... Mit diesen Techniken hat er sich auch sehr
stark und sehr entschieden an mich gewandt. Vielleicht hatte ich deshalb
eine Antipathie und mich dem nie recht gewidmet. Das war schon ein
bißchen aufdringlich, das Überstülpen einer bestimmten Sicht, die er als
wichtig ansah. Er hat genau das Gegenteil bei mir bewirkt.
Es war in einer Ferienbegegnung, da hab' ich einen Kollegen aus München
mitgebracht, der hatte sich stark mit Radierung beschäftigt. Als Onkel
davon erfahren hat, fing er an: ›Ja, wir radieren mal zusammen.‹ Der
Freund war offen und hat sich ehrlich interessiert. Das war der Anlaß ,
einen Radiertag einzulegen. Da haben wir gemeinsam radiert. Das lief
ganz gut, bis zu einem Punkt. Da hab' ich eine kleine Sache nicht so
verfolgt, wie sie der Onkel gerne gehabt hätte. Da wurde er energisch –
und ich hab' den Krempel hingeworfen und bin weggegangen. Es war 'ne
technische Kleinigkeit im Ätzvorgang, wo 'ne weitere Nuance von ihm
erwartet wurde, was ich nicht als so wichtig empfand. Das war der
Aufhänger. Aber der Hintergrund war eigentlich schon jahrelang fixiert.«
Was er bei seinen anderen Schülern im Nachkriegsjahr richtig gemacht
hatte: »Er wollte keine kleinen Mettens aus uns machen« – beim Neffen
macht der Maler-Onkel es verkehrt. Der Grund ist klar: Er liebt Johannes
viel zu sehr, um den nötigen Abstand zu haben. Diese Liebe freilich
kann durch solche Vorfälle nicht belastet werden. Jean hilft und
versucht mit allen Mitteln, den Kontakt zwischen Johannes und der
Familie aufrecht zu erhalten. Dazu wieder Briefauszüge:
» ... Am Adventstag, 30. November, soll für die Weihnachtsausstellung
eingeliefert werden. Möchte den Stich »Sebastianus im Zorn« beigeben.
Kann aber den Druck nicht finden. Weißt Du ungefähr, wo er liegt?«
» ... so stelle ich Dir den Betrag des vorjährigen Staatsankaufes zur
Verfügung. Das wird wohl fürs Sommersemester reichen ... Wenn Du Deine
Wohnung in München halten willst, die Miete zahle ich.«
»Nun ist noch immer keine Post von Dir angekommen, seit Du von hier fort bist. – Stimmt das?«
»Wie ich eben so nebenbei erfahre, soll Andreas Dir über die ›Pläne‹
usw. Deines Vaters geschrieben haben. Von mir aus möchte ich Dir sagen:
Lasse Dir Dein Studium nicht vorzeitig beenden oder abbrechen. In großer
Sorge – viele herzliche Grüße Dein Onkel Jean.«
Die Sorgen sind zwar berechtigt, doch der Neffe gibt sein Studium nicht auf.
Im Hause Metten ändert sich viel in dieser Zeit. Die »Kinder« sind
erwachsen: Die beiden Nichten Barbara und Elisabeth heiraten und ziehen
außer Haus. Gerade die Heirat der Nichte Barbara zeigt einmal mehr
deutliche Unterschiede zwischen den alten Brüdern Jean und Andreas auf:
Barbara war schon jahrelang mit ihrem späteren Mann »gegangen« und
heiratete noch im »Trauerjahr« nach dem Tode Apollonias. Der Vater
Andreas, mißtrauisch wie er ist, schneidet seine Tochter, weil er
vermutet, daß biologische Gründe die jungen Leute dazu zwingen, den
ursprünglich vorgesehenen Heiratstermin einzuhalten. Der Onkel dagegen
besucht das junge Paar, das ins Anwesen seines Ateliers einzieht, vom
ersten Tag an. Er hätte für die »menschlichen Verfehlungen« sicher
Verständnis gehabt. Indes: Die Sorge ist unbegründet. Der älteste Sohn
kommt mehr als ein Jahr nach der Hochzeit auf die Welt. Da ist auch
Andreas zumindest so weit versöhnt, daß er die Tochter und deren Mann
nicht mehr gar so barsch schneidet.
Der alte Mann bleibt verbittert. Sein Bruder, dem er das ganze Leben
gewidmet hat, ist kein großer Künstler geworden, kein bekannter Mann.
Und das nicht, weil er es nicht gekonnt hätte, sondern weil er es nicht
wollte. – Der älteste Sohn geht ähnliche Wege – und die älteste Tochter
ist tot.
Andreas Metten will raus aus der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht«. Er
plant, sich auf dem Zornheimer Berg inmitten von Obstfeldern eine kleine
Bleibe einzurichten. Dazu kommt, daß die Schwester der Brüder Metten,
Apollonia, 78jährig stirbt. Das fromme, hilfsbereite, gutmütige und
arbeitsame Wesen stirbt an Alterskrebs. Der Neffe Johannes:
»Als ich etwa sieben Wochen vor dem Tod zum letzten Mal von der Tante
Abschied nahm, da saß sie im Bett und hat gelacht und hat mir
nachgewunken. Und der Onkel stand am Fenster und hat geweint. – Onkel
war ein sehr weicher Mensch.«
So gläubig der Maler ist, den Tod hat er für sich nicht verarbeitet. Auf
einen Brief an den studierenden Neffen Johannes zeichnet er
eindrucksvoll das Totengesicht der Schwester, ein für ihn
außergewöhnliches Motiv.
Auch zur Beerdigung seiner Schwester ist Jean Metten nicht auf dem Friedhof.
Sammler und Bewahrer alten Wissens – Der Würzwisch-Zyklus
⇧
Künstlerisch bringen die 50er Jahre trotz aller privater Wirren,
Krankheiten und Schicksalsschläge den Abschluß seines großen
Würzwisch-Zyklusses. Zwar hat Jean Metten immer noch niemanden gefunden,
der ihm Texte zu den Bildern schreiben könnte, doch sein Ziel, die 33
der Würzwisch-Madonna geweihten Heilkräuter darzustellen, erreicht er.
Mit dem Plan dazu hat er sich ja schon Ende der 20er Jahre
herumgeschlagen, seine letzte Zeichnung datiert vom 1. 8. 1956. Mehr als
25 Jahre also hat der Maler gebraucht, um den Zyklus abzuschließen.
Die lange Zeitspanne liegt nicht nur an den schlechten äußeren
Umständen. Metten ist kein konzentrierter Arbeiter. Er schafft es nicht,
zügig und diszipliniert zu arbeiten. Sein Atelier steht voller Bilder,
die nur teilweise fertig sind, die er mal um mal hervorholt, um weiter
daran zu malen. Das führt im Extrem sogar dazu, daß offensichtlich
ausgereifte Bilder nicht von ihm freigegeben werden, weil er da und dort
noch weitere Verbesserungen anbringen will.
So porträtiert er Ende der 20er Jahre Elisabeth Sassenroth: »Wenn ich
gewußt hätte, was auf mich zukommt, daß ich ein halbes Jahr lang jeden
Samstag da hinpilgere, da hätte ich gleich nein gesagt. Man hat ja
samstags morgens noch gearbeitet – und den Mittag, das bißchen Freizeit,
das man hatte, das habe ich noch abgesessen. Und immer ein und dieselbe
Stellung. Ein und derselbe Platz mit der Fensterbank – ach, ich bin oft
fast eingeschlafen ...
Dann war das Bild so weit gediehen. Ich hab' ein Buch in der Hand gehabt. Und die eine Hand, die
das Buch gehalten hat, die ist ihm nicht so richtig geglückt. Er hat gesagt: ›Da muß ich noch was anderes machen! ...‹
Mittlerweile ist sein 70. Geburtstag gefeiert worden. Das war mit der
Ausstellung beim Engel. Da bin ich eingeladen worden und hab' geguckt:
›Wo ist denn dein Bild? Das ist ja gar nicht da!‹ – ›Ei ja, das ist ja
gar nicht fertig.‹ Da hab' ich gesagt: ›So, ist es die Unvollendete ...‹
Später hab' ich ihn wiedergesehen. Da hat er gesagt: ›Ei, das machen wir
noch fertig.‹ Das hat dann wieder 'ne ganze Zeitlang gedauert. Und dann
hat er mich wieder bestellt. Ich sollte mal zu ihm kommen. Und da hatte
er die Hand ein bißchen gemacht ... Er hat das dann mit der Hand
fertiggemacht. Das war Ende der 60er.«
Nach fast 40 Jahren verkauft Metten das Bild der Frau, die in schweren
Zeiten kostenlos für ihn Modell gesessen hatte, für 100 Mark. Und die
behält er nicht, die schickt er in die Mission.
Seine Eigenheiten führen auch dazu, daß er nur wenige Bilder wirklich
zum Verkauf gibt. So ist es im Lauf der Jahrzehnte sein Bruder Andreas,
der bestimmend sagt: »Dieses Bild ist fertig, das wird jetzt signiert
und verkauft.« Denn so manches Mal müssen sich Interessenten mit Jean
Mettens Auskunft abspeisen lassen, er habe momentan kein fertiges Bild
zum Verkauf parat.
Ortsbürgermeister Eifinger will zum Beispiel einmal eine rheinhessische
Landschaft für die Gemeinde Nieder-Olm kaufen. Metten hat das Bild kurz
vorher fertiggestellt. Da erhebt sich für ihn die Frage: Wie vermeide
ich den Verkauf? Jean Metten macht es ganz geschickt: Er schenkt das
Bild dem Neffen Johannes. Darauf bittet der Bürgermeister um ein neues,
das ja noch gemalt werden könne. Auch dieses Ansinnen schlägt der Maler
mit windelweichen Erklärungen aus.
Unter Druck zu malen, und ein geplanter Verkauf ist für ihn Druck, das
ist unmöglich. Er verkauft nur, wenn sich's denn gar nicht vermeiden
läßt.
Den Würzwisch schafft er jedoch nicht nur um der Schönheit der wilden
Heilkräuter willen. Jean Metten befaßt sich mit altem Brauchtum, er will
das Wissen der Ahnen, ihre Gewohnheiten und Bräuche der Nachwelt
überliefern.
So treibt er gerne Heimatkunde. Das Wissen um die alten Orte wie
Reichelsheim, die Geschichten um Olmena und die Laurenziburg will er
bewahren. Der Schullehrer Rektor Roth leistet dabei die meiste
schriftliche Arbeit. Doch auch der Onkel macht sich Notizen, sammelt,
erzählt und läßt sich erzählen.
Freilich bringt er es nicht zuwege, die Notizen zu ordnen,
katalogisieren, systematisieren. Sein Tisch ist voller Blätter, ein
chaotisch anmutender Wust. Eine regelrechte Sammellaune entwickelt der
Mann.
Sein großes Hobby, das einzige, das er wirklich pflegt, sind
Briefmarken. Da lebt er auf. Er hat zwar nie viel Geld, aber das, was er
hat, reicht, um die neuesten Marken im Viererblock zu kaufen. Seine
Sammelgebiete: Deutschland und Vatikan. Was er doppelt hat, das steckt
er für die Kinder in Alben zusammen, um sie auch zum Sammeln anzuhalten.
Es gelingt ihm, einige Familienmitglieder zu Briefmarkensammlern zu
machen.
Den neuen Michel-Katalog läßt er sich alljährlich aus Mainz mitbringen.
Weniger, weil die Marken für ihn eine Wertanlage sind, als mehr aus
purem Sammlerstolz. Er bastelt sich aus Pappe selbst seine Alben, und
aus einer Mischung von Mehl und Speichel klebt er seine geliebten Marken
ein.
Ähnliche Alben aus grobem Karton macht er sich, um Kalenderbilder,
Zeitungsausschnitte und Sprüche anscheinend ohne System einzukleben.
Die alten Geschichten und Brauchtümer Rheinhessens lassen sich freilich
nicht wie ein Bild in ein Album kleben. So erzählt er oft Geschichten
von den Mühlen um Nieder-Olm. Von einem ermordeten Müller, über dessen
Tod die Ehefrau erst auf dem Sterbebett berichtet. Denn mit der
Erklärung »Er ist nach Amerika ausgewandert«, war das Verbrechen
vertuscht worden.
Die alten Geschichten dienen auch dazu, die Novellen Wilhelm Holzamers
zu interpretieren, denen oft genug wahre Begebenheiten zugrunde liegen.
Jean Metten kann das alles erzählen und bemüht sich, es den Angehörigen
zu vermitteln.
In den 50er und 60er Jahren kann er sich denn auch maßlos darüber
ärgern, daß etwa das Amtsgericht abgerissen wird, die Apotheke an der
katholischen Kirche umgebaut wird, die Heiligenhäuschen im Felde
vernachlässigt werden. Er will bewahren.
Seine Sorge gilt vor allem den Pflanzen. Klar, daß der Bauernsohn jeden
Schmetterling kennt, alle Blumen einordnen kann, und in Disteln und
Brennesseln eben kein Unkraut, sondern Wild- und Heilkräuter sieht.
Entsprechend kritisch steht er den Neuerungen der Landwirtschaft
gegenüber, sieht er doch die wichtigen Lebensräume für Tiere und
Pflanzen langsam zerstört. Die Meinungen, die sein Berliner Freund, der
Botaniker Allmang, äußert, gelten auch für Jean Metten:
»Gegen frühere Jahre hat die Vogelwelt sehr abgenommen. Die Vögel
verlieren ihre Lebensbedingungen, die sie jeweils brauchen. Durch das
Sprühen mit Pflanzenschutzgiften sind die Insekten fast ausgestorben.
Keine Bienen, Hummeln und Käfer mehr. Die vielen Arten Schmetterlinge,
die wir früher hatten, sind nicht mehr da. Der Ertrag der Obstbäume geht
herunter, weil die Bestäubung fehlt.«
»Gewiß gelten die Raupen als Schädlinge an Kohlpflanzen. Aber es wird
nicht lange dauern, dann sind sie ausgestorben wie viele andere
Tierarten auch.«
Der Maler und sein Berliner Freund sind auch in Sachen Stadtentwicklung dem Zeitgeist weit voraus:
»Es ist bedauerlich, in der Altstadt Mainz ein Hochhaus zu errichten.
Wir haben bereits die unguten Beispiele in Köln (Haus des
Gerling-Konzerns neben der bedeutenden Kirche St. Gereon) und in
Koblenz. In beiden Städten leidet darunter der alte Baubestand.«
Jean Metten, der Mann, der alles bewahren will, forscht auch die eigene
Ahnenreihe aus. Um diese Arbeiten zu vervollständigen, führt er
Briefwechsel mit Alterskameraden. Für sein Wissen über Pflanzen, wie die
im Würzwisch enthaltenen, korrespondiert er mit dem Botaniker Allmang.
Dieser wird in den letzten beiden Lebensjahrzehnten ein Freund, mit dem
sich der Maler sehr rege austauscht. Der Berliner befaßt sich mit
Mettens Interessen: »Der Grabstein von 1645 ist zerstört, schreiben Sie.
So geht immer mehr verloren, und wenn es nicht wenigstens
aufgeschrieben wird – nachher weiß niemand mehr etwas davon.«
»Wesentlich wäre, über den Würzwisch und seine Bedeutung und Geschichte
etwas zu schreiben ... Findet heute am 15. August in der Pfarrkirche
noch immer die Würzwischweihe statt oder ist dieser alte Brauch in
Vergessenheit geraten? Während meiner Mainzer Zeit war ich mit dem Dr.
Paul Spiess bekannt. Der wußte auch genau wie Sie noch von alten
Bräuchen.«
Den Würzwisch-Brauch immerhin wird Metten noch publik machen können.
Jahre später, zu seinem 80. Geburtstag, wird seine letzte Ausstellung im
Mainzer Blütenhaus den Würzwisch zum Thema haben. Der Begleittext:
»Die Bildnisse dieser Ausstellung zeigen Pflanzen, denen schützende und
heilende Kräfte zugesprochen werden. Von altersher wollten die Menschen
diese Kräfte in übermenschlicher Obhut wissen, das heißt, in
vorchristlicher Zeit waren sie den Göttern anvertraut, in christlicher
Zeit den Heiligen und der Mutter Gottes. Sie wußten, daß die Menschen
Unheil mit diesen Kräften stiften könnten (Hexen und Zauberer). In
unserer Gegend heißt dieser Kräuterstrauß Würzwisch, in Nieder-Olm, der
Heimat das Malers: Werzwisch. Andere Namen im west- und süddeutschen
Sprachgebiet sind: Weihbüschel, Weihenne, Himmelfahrtsstrauß und
Marienkräuterstrauß. Eine wichtige Rolle bei der Zusammenstellung des
Straußes spielen heilige Zahlen 3 und 7 mit allen Vielfachen bis 99, in
Nieder-Olm sind es 33 Pflanzen.
Die Zusammensetzung des Straußes richtet sich nach dem Standort und der
Bodenbeschaffenheit: Waldgegend, Wiesenland, Sumpf- und Heidegebiet,
Ackerraine, auch Gartenpflanzen werden genommen (zum Beispiel in
Gonsenheim Zwiebeln und Lauch). Die Leute, besonders in ländlichen
Gegenden, bringen heute noch die selbstgepflückten Sträuße am 15. August
– Mariä Himmelfahrt – zur Weihe in die Kirche. Sie wollen Glück und
Segen sichtbar nach Hause tragen: Als Schutz vor Gewittern und Segen für
das ganze Haus, auf dem Speicher aufgehängt, dem Viehfutter beigemischt
vorbeugend gegen Krankheiten und als Hilfe beim Kalben, den Menschen
als Mittel gegen jede Art von Gebrechen, den Toten zur ewigen Ruhe.
Geweihte Getreidekörner werden unter das Saatgut gemischt. Alles
Lebendige, das mit dem Kräuterbüschel berührt wird, bekommt besondere
Kraft. Man bereitet aus den geweihten Pflanzen heilbringende Tees und
Salben (Hildegard von Bingen empfiehlt in ihrem Kräuterbuch das Pflücken
der Pflanzen bei zunehmendem Mond). Die Mediziner haben
wissenschaftlich viele Eigenschaften der Kräuter bestätigt: Lindern,
Kühlen, Schweißtreiben, Berauschen, Heilen. Das Volk sieht mancherorts
auch heute noch nicht nur heilkräftigende Wirkungen, sondern glaubt, es
wohne diesen Pflanzen ein starker Zauber inne – das Aufhängen des
Straußes im Haus oder das Beisichtragen bestimmter Pflanzen genügt ihnen
schon.«
Die Ausstellung wird ein Erfolg. Ein letztes Mal steht Jean Metten mit
seiner Kunst im Mittelpunkt, genießt es, Schulklassen Rede und Antwort
zu stehen. Doch sein langgehegter Wunsch, die Zeichnungen in Buchform zu
veröffentlichen, erfüllt sich nicht.
Mahner in der Wirtschaftswunder-Zeit – Das »Kreuzweg«-Debakel
⇧
Die 50er Jahre bringen Deutschland den wirtschaftlichen Aufschwung und
relative politische Freiheit. Die Metten-Brüder sind den Entwicklungen
gegenüber skeptisch wie je.
Gustav Heinemann, der 1950 als Innenminister wegen der
Wiederbewaffnungspolitik zurücktritt, ist für sie ein Politiker, der
wählbar ist. Obwohl die Mettens in den Amerikanern die Befreier vom
Nazi-Regime sehen – sie sehen auch die Gefahren, die von der Coca-Cola-
und Kaugummi-Nation ausgehen. So mahnt Jean die Neffen und Nichten:
»Wählt den Heinemann, das ist der einzige, der keinen Krieg will.« So
läßt die politische Entwicklung die Brüder unvermindert knottern und
zetern. Als die Bundeswehr gegründet wird, sind sie radikale Gegner:
»Genug Soldatches gespielt. Soll das ewig so weitergehen?«
Die Erneuerungen passen den beiden überhaupt nicht. Das bezieht sich
auch auf die Kirche. Ein neues Gesangbuch wird im Bistum Mainz
konzipiert. Der Freund Richard Knies ist Mitautor, im Grünewald-Verlag
wird es später gedruckt. Das gibt Anlaß, trefflich über den Gottesdienst
zu streiten, sich mit Guardini, Papini und der aktuellen Kirche
auseinanderzusetzen. Die Mettens sind auch da konservativ, wollen die
Entwicklung nicht mitgehen, sehen nach dem Rausch des großdeutschen
Wahns den Glauben und die rechte Lebensführung nun im Konsumrausch
verschwinden. Aus Protest gegen neue Gottesdienstformen wird Andreas
später sogar den neuen Nieder-Olmer Pfarrer Norbert Pfaff boykottieren.
Er geht lieber nach Sörgenloch, wo ein alter Pfarrer die Messe noch nach
dem alten Ritus zelebriert. Denn Laien, die Kommunion austeilen oder
Bußmessen statt Ohrenbeichte, das ist für Jean und Andreas nicht
akzeptabel.
Die Brüder sind nun beide über 70. Jean, der Künstler, beginnt zu
kränkeln und ist sehr kälteempfindlich. Entsprechend ist sein Aufzug. Er
hat zwei oder drei Pullover übereinander an, darüber einen Schal um.
Nicht elegant, sondern bürgerlich-bäuerisch kommt er daher. Mit
Strickjacke, Wams und Spazierstock läuft er wie ein hutzeliges Männchen
über die Straße, Sommer wie Winter. Denn: »Was gut ist für die Kält, ist
gut für die Hitz.« Wenn er dann doch seinen Schnupfen hat oder es
kratzt ihm im Hals, dann ist er »krank« und läßt sich gerne bekuren.
Sein körperlicher Ausgleich reduziert sich immer mehr. Wenn er Holz
hackt, dann ist nach wenigen Scheiten für ihn die Arbeit erledigt. Oder
wenn der Groß-Neffe Wolfgang mit ihm in den Garten zieht, um dort
»wieder alles auf Vordermann« zu bringen, dann haut der alte Mann
zweimal mit der Hacke in den Boden, ein Unkräutlein ist draußen und der
Maler sagt: »So, des wär' genug geschafft.« Obwohl er körperlich
durchaus noch einiges mehr verkraften würde. Aber er zieht sich zurück,
ist kaum noch aktiv. Sein Geld, aus Zuschüssen, gibt er den Kindern oder
verschickt es an Missions-Institute.
Seine künstlerische Arbeit in den letzten 15 Lebensjahren wird weniger.
Nur zwei kleine Gefälligkeiten erweist er Freunden: Er entwirft für die
Hubertus-Mühle ein Firmen-Emblem und die Ehrenurkunde zu einem
Dienstjubiläum eines Freundes.
Ansonsten arbeitet er an dem dritten Zyklus und der größten Enttäuschung seines Lebens: dem Kreuzweg.
Die Idee zum Kreuzweg ist alt. Die ältesten erhaltenen Skizzen sind mit
dem 20. 10. 1927 datiert. Drei Jahre später, bei der Papst-Audienz,
spricht Jean Metten davon, einen Kreuzweg für die Pfarrkirche schaffen
zu wollen.
Angeregt wird er dazu womöglich durch seine Freundschaft mit Richard
Knies. Denn im Matthias-Grünewald-Verlag erscheint Anfang der 20er Jahre
ein Büchlein mit dem Titel »Der Kreuzweg unseres Herrn und Heilands«.
Romano Guardini ist der Verfasser. Die Brüder Metten und der Verleger
Knies reden sicher auch über dieses Werk. Denn Guardini will mit der
Schrift dem Gelehrten ein Stück Volksandacht nahe bringen:
»In ihren Gedanken und Worten ist Volksandacht ganz wirklichkeitsgemäß,
dem Erdboden nahe, mit alltäglichem Leben gesättigt. Ihr Gefühlston
warm, reich die Gestalten ihrer Vorstellung, ungebunden ihre geistige
Bewegung. Sie ist umgänglicher, menschlicher möchte man sagen, in ihrem
Gehaben als die Liturgie. Sie hat weniger strengen Stil. Dafür ergießt
sich in ihr das Seelenleben ungehemmter. Sie hat weniger Kultur als
jene, dafür kommt vielfach die Natur ursprünglicher zum Ausdruck, von
ganz innigen, zarten, bis zu den kräftigsten Regungen.«
Der Kreuzweg wird von Guardini als »schönste und älteste aller
Volksandachten« bezeichnet: »Mehr als jede andere (Andacht) ist er
geeignet in jener zugleich ehrerbietigen und zutraulichen, ungezwungenen
und doch wieder geformten Weise, wie das Volkswesen sie zu eigen hat,
dem Leiden des Herrn nahezukommen.«
Was liegt dem rheinhessischen Volk so nahestehenden Jean Metten näher,
als diesen Kreuzweg als Ausdruck des Glaubens zu schaffen? Den Heiland
am Kreuz hat er ebenso wie die Muttergottes und den hl. Sebastian oft
gemalt. Der Kreuzweg soll Krönung seiner stillen Arbeit als Maler
Rheinhessens werden.
So bringt er seine eigenen Noten in das Werk. Da erscheint Simon mit
einer Weinbergsharke, d. h. Metten siedelt den Kreuzweg bei den
einfachen Menschen an. Noch etwas ist bei ihm ganz anders: Für ihn endet
der Kreuzweg nicht mit der 14. Station: »Jesus wird ins Grab gelegt.«
Jean Metten sieht die Station Nummer 15, »Auferstehung Christi«, als den
rechten Abschluß des Zyklus' an. Denn ohne Auferstehung, da sind sich
ja alle Christen eins mit ihm, macht der ganze Kreuzweg keinen Sinn.
Metten malt den Kreuzweg unter doppeltem Druck: Zum einen will er – ganz
ungewöhnlich für ihn – das Werk vollenden. Zum zweiten hat er mit dem
Gemeindepfarrer und dessen Vorgänger, dem Geistlichen Rat Vitus Becker,
eine Übereinkunft getroffen. Der Kreuzweg soll in der katholischen
Kirche zu Nieder-Olm aufgehängt werden. Als Jean Mettens Vermächtnis an
die Heimatgemeinde.
Mit dem geistlichen Rat werden Details besprochen. Sogar die Bildgröße
wird anhand von alten Bildern, die vor den vielen Restaurationen der
Kirche an den Wänden hingen, ausgemessen. Das einzige, worüber offenbar
nie gesprochen wird, ist der Preis. Doch ist allen klar, daß Jean Metten
hier nicht für Geld malt.
Die Kreuzwegstationen unterscheiden sich formal von allem, was Metten
bis dahin gemalt hat. Er verläßt seinen naturalistischen Stil, löst sich
von seiner künstlerischen Vergangenheit und somit auch von den
Erwartungen seiner Auftraggeber. Als diese die Bilder in halbfertigem
Zustand sehen, sind sie enttäuscht. Das ist nicht der Kreuzweg, den sie
sich vorgestellt haben.
Das dem Maler offen zu sagen, hat niemand die Stirn. Es käme einem
vernichtenden Urteil über die Kunst Jean Mettens gleich. Doch die
vermeintlichen Auftraggeber sind sich einig, daß sie ihre Zusagen
zurückziehen. Im Glauben, hier sei ein alternder Künstler an seiner
Aufgabe gescheitert, lassen sie gar leise Andeutungen verlauten, ob denn
nicht der Neffe Johannes, von dem man ja weiß, daß auch er Künstler
ist, das Werk vollenden könne.
Daß Jean Metten hier ganz bewußt eigene künstlerische Wege geht,
übersteigt ihr Vorstellungsvermögen. Die Zeit hilft Vitus Becker. 1960
tritt Nikolaus Nikolay seine Nachfolge als Gemeindepfarrer an.
Schriftliche Verträge existieren nicht. Der neue Pfarrer hat den
gleichen Geschmack wie der alte. Auch er kann es allerdings dem Maler
direkt nicht sagen. Sein Ausweg: Das Bischöfliche Ordinariat habe
darüber zu befinden. So schreibt Nikolay unter Verkennung der
verwandtschaftlichen Verhältnisse im Februar 1964 nach Mainz:
»Beiliegend überreiche ich 14 Farbfotos eines Kreuzweges, den der
Nieder-Olmer Künstler Herr Metten gemalt hat ... Wie mir mein Vorgänger
H. H. Geistlicher Rat Becker und der frühere Kaplan H. Pfarrer Mertens
versicherten, haben sie dazu weder schriftlich noch mündlich einen
Auftrag gegeben. Allerdings haben beide Herrn Metten einige Male in
seinem Atelier aufgesucht und über den Kreuzweg gesprochen.
Durch die bevorstehende Renovierung der Pfarrkirche wurden mir von 3.
Seite diese Bilder überreicht. Herr Metten selbst hat bei meinen
Hausbesuchen niemals davon gesprochen, aber ich weiß, daß er darunter
leidet. Herr Metten, seine Kinder und Enkelkinder7 gehören zu den treu katholischen Familien hier.
Der katholische Kirchenstiftungsrat bittet das Bischöfliche Ordinariat
zu entscheiden, ob diese Kreuzwegbilder in ihrer Größe (1 x 1,10 mtr)
und farbigen Gestaltung in der hiesigen Pfarrkirche im Zuge der
Renovierung angebracht werden können.«
Sieben Monate später antwortet der Generalvikar Haenlein nach einer
Sitzung: »Das Bischöfliche Ordinariat kann eine Genehmigung zur
Anbringung dieser Kreuzwegbilder nicht erteilen. Der Kreuzweg paßt nicht
in die neu hergerichtete barocke Kirche.
Herrn Metten wollen Sie bitte unseren Dank sagen für seine Bemühungen um Mitgestaltung der Kirche.«
Der Schlag trifft Jean Metten ins Mark. Er weiß genau, daß er hier als
Künstler nicht akzeptiert wird. Sein Werk wird abgelehnt – unter
fadenscheinigen Vorwänden. Seine Abmachung mit dem Kirchenmann Vitus
Becker – sie ist nichtig, wird sogar verleugnet. Sein Lebenswerk, von
dem er vor mehr als dreißig Jahren dem Papst in Rom erzählte, wird
niedergemacht.
Von diesem Schlag erholt er sich nicht. Er versucht zu unterscheiden.
Zwischen seinem Glauben, seiner Religion, dem allmächtigen und
wohlgefälligen Gott auf der einen Seite, und den schwachen Menschen
andererseits, denen jeder Fehltritt verziehen werden müßte. Es brodelt
in dem Künstler. Angehörige berichten, wie es manchmal aus ihm
herausbricht: »Er schimpfte nicht laut, eher wie ein Gelähmter. Er saß
im Stuhl: ›Die Stromer, die Lumpen‹ – man merkte, wie er sich innerlich
aufwühlte, ohne äußerlich aus der Haut zu fahren. Auch wenn er sagte:
›Da muß man doch aus der Haut fahren.‹ – Der Schlag mit der geöffneten
Hand auf die Stuhllehne, das ist das Äußerste – verbunden mit einem
ohnmächtigen Händeringen.«
Auch wenn es ihm nicht gelingt, versucht Jean Metten, innerlich ins
Reine zu kommen. Selbstzweifel plagen ihn, er erwägt, den Kreuzweg in
eine Mission nach Afrika zu schicken, damit dessen Zweck, den Gläubigen
einer Gemeinde optischer Anhaltspunkt für die Rückbesinnung auf das
Leiden Christi zu sein, erfüllt wird.
Kämpfen will er nicht. Das versuchen andere. Der Neffe Johannes etwa,
für den sich der Onkel in der Vergangenheit so oft eingesetzt hat. Er
verwendet sich nun für den alten Künstler und schreibt dem Bischof:
Ȇber die Unklarheiten bei der Auftragserteilung trifft sicher beide
Initiatoren (Geistlicher Rat Becker und Maler Jean Metten) Schuld. Doch
diese Frage stand bei der jetzigen Entscheidung nicht mehr im
Vordergrund.
Der von Jean Metten gestaltete Kreuzweg besitzt ohne allen Zweifel
wirklich künstlerische Substanz. Er ist das Alterswerk eines 75jährigen
Künstlers, dessen Leben sehr reich war an Enttäuschung und
Zurücksetzung. Dieser Kreuzweg beinhaltet persönlich erlittenes Leben in
reichem Maße und schöpft seine Gestalten aus einem einfachen
bäuerlichen Milieu, aus dem der Künstler selbst stammt und in dem er ein
Leben lang gestanden hat ...
Die Ablehnungsbegründung, das Format der Bilder sei zu groß oder einige
Farbtöne seien nicht glücklich gewählt, liegt doch sehr am Rande ...
Hinzu kommt, daß mir Herr Pfarrer Nikolay erklärt hat, er hätte alles
ihm möglich Erscheinende getan, um diesen Kreuzweg in die Kirche zu
bekommen.
Wir hier in Nieder-Olm hätten in erster Linie mit dem Werk leben müssen und leben wollen.«
Die Antwort des Generalvikars Haenlein im Februar 1965 lautet: »Es darf
Ihnen mitgeteilt werden, daß in die Kirche von Nieder-Olm die von Ihnen
vorgelegten Bilder nicht passen. Das Bischöfliche Ordinariat glaubt auf
diesem Standpunkt bestehen bleiben zu müssen, diesen Kreuzweg für die
Pfarrkirche in Nieder-Olm nicht zu genehmigen. Über ihr persönliches
Schaffen und die Qualität der Bilder wird damit nichts ausgesagt.«
Damit ist die Geschichte fast ganz ausgestanden. Auch wenn sich Pfarrer
Nikolay nochmals rechtfertigen muß, weil das Bischöfliche Ordinariat –
den Neffen mit dem Maler-Onkel verwechselnd – ihn auf Widersprüche
befragt: »Der Künstler behauptet in dem Brief, daß Sie, sehr verehrter
Herr Pfarrer, ›alles Ihnen möglich Erscheinende getan hätten, um diesen
Kreuzweg für die Kirche zu bekommen‹. Es wäre doch wichtig einmal zu
wissen, wie Sie sich zu der Ablehnung stellen, da Sie doch vorher mit
dem Entwurf nicht einverstanden waren.«
Der letzte Brief in Sachen Kreuzweg stammt vom 8. März 1965. Pfarrer Nikolaus Nikolay schreibt seinen Vorgesetzten:
» ... teile ich Ihnen mit, daß die Entscheidung der Bischöflichen
Behörde meiner Erwartung entsprach. Herr Metten sen. hat im Jahre 1958
mit dem Kreuzweg begonnen und ihn innerhalb 2 Jahren soweit
fertiggestellt. Während dieser Zeit wurde er von meinem Vorgänger H. H.
Geistl. Rat Becker und seinem ehemaligen Kaplan H. H. Pfr. Mertens in
seinem Atelier aufgesucht. Wahrscheinlich hat er diese Besuche als
Ermunterung betrachtet, an den Kreuzwegbildern weiter zu arbeiten,
obwohl er dazu weder schriftlich noch mündlich einen Auftrag hatte.
Leider hat man damals versäumt, den Künstler darauf aufmerksam zu
machen, daß die Anschaffung eines Kreuzwegs schon vor seiner Ausführung
der Genehmigung der Bischöflichen Behörde bedarf ... Als ich damals
Dezember 1963 den Kreuzweg durch die Farbfotos zum ersten Mal
kennenlernte, verhielt ich mich aus seelsorgerischen Gründen und
aufgrund der Vorgeschichte sehr reserviert und sah in der Vorlage bei
der Bischöflichen Behörde den einzigen Ausweg, in dieser leidlichen
Sache eine endgültige Lösung herbeizuführen ... Ich glaube nicht, daß
durch die Ablehnung seelsorgerische Schwierigkeiten entstanden sind.
Sein Urenkel8
versieht auch weiterhin treu und eifrig den Ministrantendienst. Als ich
gestern im Hause Metten vorsprach und die Genehmigung der Apostelkreuze
mitteilte, hatte ich den Eindruck, daß dies zur Versöhnung beigetragen
hat.«
Die Apostelkreuze, eine Auftragsarbeit an den Neffen Johannes, werden
von Nikolaus Nikolay als Kompensationsgeschäft verstanden, zur
Gewissensberuhigung.
Die Entscheidung gegen den Kreuzweg wird Professor Heinz Müller-Olm in
seiner Ansprache zum 100. Geburtstag Jean Mettens veranlassen, von
»Kunstbanausen im schwarzen Rock« zu sprechen. Jean Metten aber leidet,
still.
Abschied von der »Schönen Aussicht« – Ende eines bescheidenen Lebens ⇧
In der Wirtschaft »Zur Schönen Aussicht« hat sich viel verändert. Ende
der 50er hat Andreas Metten Senior sein Häuschen auf dem Zornheimer Berg
fertiggebaut. Er zieht raus aus dem Ort, weg von der Stelle, wo seine
Tochter überfahren wurde, lebt als Eremit. Seine Frau Apollonia bleibt
zunächst in der Wirtschaft. Die wird geschlossen, denn niemand ist da,
der sie weiterführen könnte. Auch die jüngste Tochter, Maria, hat kein
Interesse daran. Sie ist es, die jetzt den Onkel versorgt, soweit er
sich versorgen läßt. In seinen abgetragenen, ihm liebgewordenen
Klamotten sieht er zwar recht abgerissen und ungepflegt aus, aber auf
solche Äußerlichkeiten legt er keinen Wert.
Anfang der 60er kommt der Neffe Johannes zurück. Er hat seine
künstlerische Ausbildung abgeschlossen. Der Onkel Jean ist stolz auf den
Neffen. Als dieser 1959 in Salzburg den Kokoschka-Preis erhält, da sagt
der Onkel: »Ja, die Grundlage hat er bei mir im Aquarellieren
erfahren.«
Daß der Neffe eigenständige Wege geht, völlig unbeeinflußt von des
Onkels Schaffen, ja daß sogar große Spannungen existieren, weil die
Kunstauffassungen zu gegensätzlich sind, läßt Jean Metten nicht nach
draußen dringen. So will etwa Liesel Groß – eine emigrierte Jüdin – ein
Bild von Jean Metten erstehen, und weil das nicht so recht klappt, fragt
sie an: »Sie schrieben mir mal, daß Ihr Neffe in Nieder-Olm seine Kunst
betreibt. Vielleicht hat er etwas, das in Frage käme?« Jean Metten wird
ihr nie schreiben, daß vom Neffen – einem zeitgemäßen Bildhauer – keine
Heiligen-, Blumen- oder Landschaftsbilder zu erwarten sind.
Der Neffe ist für den Onkel ohnehin ein wandelndes Fragezeichen. Da
kommt er vom Studium, baut sein Gieß-Atelier und seine Werkstatt. Kaum
steht sie, holt er seine Frau, ebenfalls eine Künstlerin, zu sich,
heiratet und weiß nicht, wovon er die nächste Woche leben soll. Diese
Risiko-Bereitschaft ist für Jean Metten nicht nachvollziehbar. Er macht
sich Sorgen um den Neffen und teilt sie den Brieffreunden mit: »Mein
Neffe Johannes, akademischer Bildhauer, hat sich im Hause eine
Bronzegießerei eingerichtet. Er muß sehen, wie er durchkommt, denn die
wirtschaftswunderliche Zeit in Westdeutschland fängt an zu stocken, und
die Künstler sind immer die ersten, die es merken müssen.«
Andreas Senior, der beim Bruder die Last und Hetze des Künstlerdaseins
über sechs Jahrzehnte verfolgte, findet sich nun notgedrungen ab mit dem
Leben des Sohnes.
Nach und nach stellen sich beim Künstler-Ehepaar Johannes und Liesel
Metten Kinder ein. Und die letzte im Haus lebende Nichte Maria heiratet
auch. Jean Metten, ein alternder Künstler, erlebt die jungen Familien,
das wachsende Leben erneut im engsten Kreise mit. Doch er kann nicht
mehr so, wie er gerne möchte. Er kränkelt. Lungenentzündung, Rheuma,
eine Terpentin-Allergie an den Händen, was ihm das Malen in Öl unmöglich
macht.
So schreibt er an Freunde: »Unser Vater hat immer erklärt, das Alter sei
an sich schon eine Krankheit, und dazu kommen noch große und kleine
Wehwehchen, so daß die Zeit oft genug ausgefüllt ist.«
Die »Wehwehchen« hindern den Künstler an weiterem Schaffen, obwohl er
immer wieder von Bildern spricht, die er noch malen möchte.
Doch seit dem Kreuzweg-Desaster ist der Mann innerlich gebrochen. Als
die Nichte Maria mit ihrem Ehemann sich unweit der Wirtschaft ein neues
Haus baut, taucht für Jean Metten die Frage auf, wo er denn nun wohnen
soll.
Weiterhin in der Wirtschaft, wo er sein ganzes Leben verbracht hat, und
dabei einer Künstlerfamilie mit emanzipierter Frau, die zwar auch Kinder
hat, aber alles andere als »Hausfrau« im klassischen Sinne ist, früher
oder später zur Last fallen? Oder soll er mit der Nichte ziehen. Die zum
einen »nur« Hausfrau ist, zum anderen als Blutsverwandte es dem Onkel
leichter macht, seine »Wehwehchen« bekuren zu lassen. Der Maler zieht
zur Nichte Maria, raus aus der Wirtschaft. Wie alle Beteiligten später
erkennen, war dies die beste Lösung, auch wenn Außenstehende den
Eindruck bekommen, daß jetzt der alte Mann entwurzelt ist. Das stimmt
zwar irgendwie, doch genauso richtig ist, daß sich der Maler schnell in
seinem neuen Heim einrichtet.
Seine große Sorge in jenen Jahren: daß in der schnellen, oberflächlichen
modernen Welt alles vergessen geht, und daß auch er vergessen wird. So
besteht er mit moralischem Druck darauf, daß ihn die Neffen und Nichten
mit den Familien regelmäßig besuchen. Er freut sich an deren Kindern.
Freut sich auch auf Familienfeierlichkeiten, zu denen die
Metten-Großfamilie zusammenkommt. Es geht ihm darum, an ihrem Leben
teilzuhaben. Wer ihn besucht, den läßt er so schnell nicht wieder weg.
Da sitzt er in seinem Stübchen im Bett, oft genug voll angekleidet, mit
Hose, Wams und Schal, das Hemd vorne offen, und erzählt. Er erzählt von
früher, vom Krieg und vom Jetzt, so zum Beispiel von der ersten
Mondlandung, die ihn fasziniert. Er ist tagespolitisch nach wie vor voll
auf der Höhe, weiß um Vietnam und fürchtet sich vor erneutem Chaos in
der Welt. Neben der Zeitung ist das Fernsehen als Informationsmedium
längst in bundesdeutschen Wohnstuben eingezogen – und Jean Metten nimmt
es dankbar an. Vor dem Fernseher sitzt er mittags mit den Kindern der
Nichte, abends mit deren Mann. Es ist eine Abwechslung in seinem Leben,
das er kränkelnd in seiner Stube mit Briefen an Freunde und Zeichnungen
lebt.
Täglich zeichnet er ein Blatt. An den datierten und signierten
Zeichnungen läßt sich im Telegrammstil die bauliche Entwicklung
Nieder-Olms, von seinem Fenster aus gesehen, nachvollziehen. Seine
Motive: Blumen, Straßenszenen, Bauarbeiter, Wolken, spielende Kinder,
Hasen, Vögel. Die Vögel füttert er handzahm. Ein Blatt wird von ihm
freudig »Die kleine Meise ist wieder da« betitelt. Einem Hasen gibt er
sogar einen Namen und verfolgt übers Jahr hinweg mit vielen Zeichnungen
sein Leben.
Der Humor des jetzt über 80jährigen blitzt oft genug durch. So zeichnet
er eine ganze Serie mit einem Schneemann, dessen Werdegang Tag für Tag
verfolgt werden kann. »Schneemann in Not« betitelt er ein Blatt, auf dem
der Genosse schmilzt. Am Ende der Serie ist nur noch ein Schneeklumpen
zu sehen. Betitelt: »Ende«.
Ein Mann mit Händen in Hosentaschen wird als »Schwerarbeiter« betitelt.
Eine schimpfende Frau vor Kindern, offensichtlich die Nichte Maria mit ihren Kleinen, wird als »Die Chefin« bezeichnet.
Sein Humor erweist sich auch, als eine seiner täglichen Zeichnungen dem
dreijährigen Sohn der Nichte, Alfons, in die Hände fällt. Dieser krakelt
mit kindlicher Hand Striche auf das Blatt. Der Onkel sieht es und
schreibt darunter: »Alfons, Korrektur.«
In den letzten Monaten beginnt er, viele seiner Unterlagen zu
verbrennen. Korrespondenzen und wer weiß welche Dokumente, die für
Nachfahren hätten sehr wichtig sein können. Warum er sie verbrennt,
bleibt offen. Zum einen will er ja altes bewahren und wird darin von
seinem Brieffreund Allmang aus Berlin bestärkt, der ihm schreibt, er
solle ja alles aufheben, um der Nachwelt sonst verlorenes Wissen zu
erhalten. Zum anderen ist da aber auch sein Freund Ordensbruder Stephan
aus Wien, der ihn auffordert: »Alle alten Briefe ins Feuer.«
Die Last des Alters drückt jetzt schwer auf Jean Metten. Geistig rege,
ist er körperlich nicht mehr in der Lage, zu schaffen oder sonstwie
aktiv am Leben teilzunehmen. Die wenigen Besucher bekniet er, doch recht
lange dazubleiben. Sie erleben es oft genug, daß der im Bett sitzende
Maler mitten in einem Gespräch einschläft. Die Briefe, die er nach wie
vor an seine Freunde in Wien, Berlin und Übersee schreibt, bestehen aus
wenigen, dürren Zeilen, entstehen Satz für Satz über Tage hinweg.
Als er am 1. Juni 1971 87jährig ins St. Vincenz-Krankenhaus in Mainz
eingeliefert wird, hat er mit dem Leben freilich noch längst nicht
abgeschlossen. Seit 30 Jahren hat er immer wieder betont: »Wenn ich doch
nur noch diese Hochzeit mitbekomme. Wenn ich nur noch jene Geburt
erlebe.« Von Ereignis zu Ereignis will er sein Leben weiter leben. Denn
er hat Angst vor dem Tod. Sein tiefer Glaube, der ihm bei allen Wirren
und Problemen des Lebens geholfen hat, ist ihm an der Schwelle des Todes
keine Hilfe zum Übergang ins nächste Leben.
Trotzdem weiß er, daß er bald stirbt und klagt im Krankenhaus: »Guck, wo
sie mich hingelegt haben. Ich weiß schon, was da kommt.« Seinem Bruder
Andreas hat er schon beim Abtransport ins Krankenhaus gesagt: »Also, in
der ewigen Seligkeit sehen wir uns wieder.«
Am 26. Juni 1971 stirbt Jean Metten. Im Arztbericht heißt es: »Der
Patient war uns ja schon von einem stationären Aufenthalt im Frühjahr
1966 als Prostatiker bekannt, wobei schon damals deutliche Anzeichen
einer Niereninsuffizienz mit Anstieg des Harnstoffes im Blut
festgestellt worden war ... In den letzten Tagen nahmen die Zeichen der
Urämie deutlich zu, der Harnstoff-Wert war weiterhin hoch und durch die
Infusions-Behandlung praktisch kaum beeinflußbar. Offensichtlich ist es
jetzt doch zu einer irreversiblen Niereninsuffizienz gekommen, die am
26. 6. 1971 dann in zunehmendem Kreislaufversagen zum Exitus führte.«
Am Dienstag, den 29. Juni, wird Jean Metten beigesetzt. Er liegt auf dem Friedhof in Nieder-Olm, neben seiner Schwester.
Die Gemeinde Nieder-Olm widmet ihm Anfang der 80er eine Straße: den
Maler-Metten-Weg, von der B 40 zum Schulzentrum. Mettens Werke sind kaum
in Museen zugänglich. Die Stadtverwaltung Mainz, die Gemeinde
Nieder-Olm, die Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen besitzen
repräsentative Arbeiten. In wenigen Häusern im Großraum Mainz hängen
seine Bilder. Der Löwenanteil befindet sich in Familienbesitz, denn der
Maler war kein Geschäftsmann. Da er scheu und bescheiden sein begrenztes
dörfliches Leben lebte, blieb er unbekannt. Selbst den Kunsthistorikern
ist der Name nicht geläufig.
Autor: Stefan Keber
Anmerkungen:
[1] Fisematente: rheinhessisch für Dummheiten
[2] »Simpl«-Witze: Simplizissimus, Satirische Zeitschrift
[3] Mucker-Höhle: von aufmucken
[4] abgezogen: verprügelt
[5] Kawaatsch: Karbatsche, Riemenpeitsche
[6] Die Viehhaltung war in der Besatzungszeit stark beschränkt, Mettens hielten viel mehr Hühner als erlaubt.
[7] Nikolay meint die Nichten, Neffen und deren Kinder
[8] Nikolay meint seinen Großneffen
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