Freitag, 9. Mai 2014

Biografie

Jean Metten 1884 - 1971




Inhalt:









Jean Metten, "Der Rheinhessenmaler".
Versuch über den Maler und seine Landschaft
von Dr. Anton Maria Keim    

Ganze zweiundvierzig Zeilen, einen einspältigen Nachruf, widmete das Feuilleton der Mainzer "Allgemeinen Zeitung" am 29. Juni 1971 dem drei Tage zuvor in Mainz verstorbenen Maler Jean Metten. In der Überschrift erscheint der gebürtige Nieder-Olmer plakativ als "der Rheinhessen - Maler". "Man hatte ihn den 'Maler von Rheinhessen' genannt", heißt es in der Würdigung. Festgestellt werden die Anregungen von Impressionismus und Pointillismus, die den jungen Nieder-Olmer in seinen Leipziger Studienjahren stilistisch geprägt hatten. "Weitgereist" wird er genannt wegen seinen ausgedehnten Italienreisen, seinen Begegnungen mit Locarno, Mailand, Florenz, vor allem aber mit Rom, den alten Meistern und dem kunstverständigen Papst, - und "viel geehrt". Als starker Kontrapunkt wird besonders aus Biographie und Werk hervorgehoben: "Aber seine Liebe galt seiner Heimat, die er mit ihren Menschen, ihrer Landschaft und ihren kleinen verträumten Ortschaften in zahlreichen Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen immer wieder festgehalten und nachgeschaffen hatte." Der Nachruf aus dem Jahre 1971 ließ aber auch etwas vom Schicksal des Metten - Werkes ahnen:
"Seine letzten Jahre waren eingetaucht in jenes glanzlose Schicksal, das so manchem Künstler beschieden ist, der sehr alt wird, der sich selbst überlebt, - und das heißt: Einsamkeit, Vergessen, Resignation. Aber sein Tod wird bei denen, die damals und auch noch in den Jahren unmittelbar nach dem Kriege am Kunstgeschehen von Rheinhessen teilhatten, gute Erinnerungen wachrufen."
Schon Hans Ulbricht (1905 - 1972), der aus Mainz stammende, gewiß zu Unrecht vergessene Schriftsteller - wie Jean Metten konsequenter Gegner des Nazi - Regimes, anders als der überzeugte Katholik Jean Metten ein engagierter Sozialist, ein dezidierter "Linker", der einige Jahre in der Aufbauphase der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur Sekretär der dortigen - renomierten - Literaturklasse, nach seinem Gedichtband "Landschaft, Traum, Nacht und Musik" (erschienen 1950) ein einfühlsamer Kenner des Jean Mettenschen Schaffens, hat 1960 in einem Essay für Walter Heists Monatsschrift "Das Neue Mainz" den Titel "Der Rheinhessen - Maler", wenn nicht geprägt, so doch weiter popularisiert.
Im gleichen Jahr stellte Jean Metten in der Mainzer Kunsthalle, dem "Haus am Dom", unter dem Titel "Bildnisse der Landschaft und des Menschen" mit weiteren zehn Künstlerinnen und Künstlern, darunter Maria Ziegler, Adam Antes, Frieda Best, Heinrich M. Seck - Carton, sechs Gemälde, zwei Radierungen (aus dem Zyklus "Mainzer Dom") und einen Kupferstich aus. Vier dieser ausgestellten Arbeiten sind ausgesprochen rheinhessische Motive (Rheinhessische Landschaft - Nieder-Olm, Straße durch Rheinhessen, Blick in die Dorfgasse, Flieder). Die Kurzbiographie stellt Metten lapidar vor: "Bekannt als "Der Rheinhessen-Maler". Schuf in aller Welt berühmt gewordene Radierungen vom Mainzer Dom ..."
Wer seitdem von Jean Metten spricht, nennt den "Rheinhessen - Maler", benutzt diesen Stempel, diese Plakette, den Titel oder das Gütezeichen in diesem Begriff. Abgesehen allerdings von der allgemeinen Vergessenheit, die fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tode festgestellt werden muß, auch wenn seine immer noch stets bewunderte "Rheinhessische Landschaft" - eine der wenigen offiziellen Ankäufe zu seinen Lebzeiten - gegenüber Teo Gebürschs unkonventionellem Domblick aus dem "Kalten Loch" zu den bedrohlich aufsteigenden romanischen Osttürmen im reichlich frequentierten Empfangsraum des Mainzer Rathauses hängt. In dem von Volker Gallé bearbeiteten Band "Rheinhessen. Entdeckungsreisen im Hügelland zwischen Worms und Bingen, Mainz und Alzey", in der Rheihe der DuMont Kunst - Reiseführer 1992 erschienen, sucht man vergeblich einen namentlichen oder bildbezogenen Hinweis auf den so apostrophierten "Rheinhessen - Maler".
Das regionale oder lokale Gütesiegel für einen Künstler, ob Schriftsteller oder Maler, kann sich leicht als recht ambivalente "Falle" seiner Würdigung und Einordnung erweisen. Lokale Festschreibung nach Werk und Biographie kann liebenswürdig wirken, motivbezogen gedacht sein, aber auch Zuweisung zur Provinzialität und damit zu minderem künstlerischem Anspruch ausmachen. Wären Günter Grass mit seiner kaschubischen Ansiedlung der "Blechtrommel" ein Danziger, Thomas Mann wegen seines Lübecker Familien - Epos von den Buddenbrooks "Heimatdichter" im abwertenden Sinne? Ganz gewiß nicht. Auch Wilhelm Holzamers Bedeutung in der Jahrhundertwende läßt sich beileibe nicht klassifizieren als rheinhessische, gar Nieder-Olmer Lokalpoesie. Elisabeth Langgässer hat mit ihrem über weite Teile in Alzey spielenden Roman "Das unauslöschliche Siegel" bedeutende Nachkriegsliteratur geschrieben. Jeder Künstler schöpft mit Recht aus seiner Erlebnis-, seiner Erfahrungswelt. Bei Goethe, dem Frankfurter, spürt man es bis in die mundartbestimmten Endreime ... Jeder Bär brummt nach der Höhle, aus der er kommt. So wie die Sprache aus Erlebnisräumen kommt, so bestimmen optische Erfahrungen und Erlebnisse nach Farbe und Form den bildenden Künstler. Kunst gedeiht eben nicht im sterilen, im luftleeren "Raum". Für den Nieder-Olmer Jean Metten wurde "Rheinhessen" bei allen vorübergehenden, nicht lange vorhaltenden "Ausbruchsversuchen" (Leipzig, Italien) zum biographischen und künstlerischen Schicksal. Seinen Nieder-Olmer "Mitbürger" Wilhelm Holzamer gelang nur scheinbar der Ausbruch aus bürgerlicher und dörflicher Enge, er nahm allerdings das gefährliche Schicksal des "Entgleisten", so der Titel des unvollendeten Romans, und des von Dorfmoral Verfemten auf sich. Jean Mettens biographisches und künstlerisches Werk wurde von der Dämonie der Enge geprägt.
Wer Jean Metten in eine rheinhessische Mal- und Malertradition einordnen möchte, muß sich der Gegenfrage stellen, ob denn diese Landschaft einen Wurzelboden für bildende Künstler hergibt oder ergiebige Objekte künstlerischer Darstellung anbietet. Adam Elsheimer mag aus dieser Landschaft kommen, in seinem Werk spürt man kaum "Rheinhessen", wenn diese Provinzialbezeichnung, mit der niemals Heimatliches, Anmutendes, gar Idyllisches assoziiert wurde, auch erst Jahrhunderte später als Produkt des Wiener "Länderschachers" nach 1815 in Umlauf kam. Darf man Mathis Neidhard - Mathias Grünewald - wegen seines Isenheimer Altars der Hintergründiges vom Blick aus der Kurmainzer Binger Burg Klopp herleitet, für diese Landschaft "vereinnahmen". Dies wäre gewagt. Eher findet diese konturenarme, romantischer Verträumtheit bare, von Nutzen, Nutzung und Nützlichkeit seit langem bestimmte Region Annäherung bei Malern unseres Jahrhunderts. Fast beliebige Beispiele, die für wesentlich mehr stehen: bei Peter Paul Etz mit seinen fast monochronen Ausflügen in die auch fast lineare Welt dieser Landschaft, bei Heinz Leitermanns penibel genauen Zeichnungen, die mit dem Blick des Architekten Dorfbilder, Gassen und Kirchen sehen, "erfassen"; bei Hermann Schmidt - Schmied, der sich spät auf die Suche nach Farbe, Form und Licht in dieser hügeligen kleinen Welt begibt; bei Alfred Mumbächer, der die Uferränder des Rheins als belebtes Industrieland begreift; bei Hannes Gaab, der mit seinem eigenwilligen "Strich" idyllische Bootsperspektiven festhält; oder auch bei Guido Ludes in seinen impressionistischen Landschaftsabstraktionen, die ein neues, ganz ungewohntes und ungewöhnliches Rheinhessen - Bild vermitteln. Von all diesen "Rheinhessen - Bildern" sind Jean Mettens Bilder um Welten entfernt.
Der bereits zitierte Essay Hanns Ulbrichts von 1960 nennt Jean Mettens Landschaften "heiter". Der Künstler sei "mit dem Stift den Ansichten rheinhessischer Orte wie ein Topograph nachgegangen". Bei aller akademischen Akkuratesse - er spielt auf die erfolgreiche Leipziger Studienzeit an, seine hohe technische und gestalterische Kunst des Radierens - sei sein Stift gegenüber dieser rheinhessischen Landschaft "nie steif" geworden. Alles, was er eingefangen habe, mit Auge, Stift und Pinsel, "bleibt immer ein beseelter Organismus".
Der Essay Hanns Ulbrichts provoziert einen verwunderten neuen Blick auf Rheinhessen, seine Hügel, seine Dörfer, Äcker und Wingerte, wenn er von der Heiterkeit der Mettenschen Landschaftsbilder spricht:
"Heiter sind Mettens Landschaften. Vom Impressionismus herkommend, tupft er mit pointillistischer Sorgfalt die farbigen Reize. So lobt und preist er das Land, darin er geboren ist und lebt. Wenn man von Rheinhessens Schönheit spricht, so unter anderem darum, weil Metten sie offenbart hat. Sein Himmel hat ihn begnadet - mit Einfachheit, Weite und beseligendem Glanz."
Ist Jean Metten mit seiner reichen und farbigen Bilderwelt - Porträts typischer rheinhessischer Landmenschen, stimmungsvoller Dorfgassen und Landschaften, dem brauchtümlich, religiös wie magisch bestimmten Würzwisch - Zyklus -, einer Bilderwelt, die in ihrer beeindruckenden Fülle noch aus dem Nachlaß entdeckt werden will, - (ist dieser Maler) der Entdecker eines für nüchtern, unromantisch, sachlich gehaltenen Rheinhessens?
Mettens rheinhessischer Landsmann Carl Zuckmayer hat in seinen Lebenserinnerungen "Als wärs ein Stück von mir" seine Heimat geschildert als eine Gegend, die "landschaftlich nichts mit dem zu tun hat, was man unter Rhein - Romantik versteht." Diese Gegend zeige "in ihrer starken besonnten Fruchtbarkeit ein äußerst einfaches, nüchternes Gepräge. Die Rebstöcke stehen ordentlich und brav, die Obstbäume in Reihen gegliedert, alles Land ist Nutzland, und nur der rötliche Hautglanz verrät etwas von ihrem heimlichen Heißblut, von ihrem gezügelten Temperament." Und er verweist auf die "bescheidenen Haufendörfer, manche mit einer hübschen alten Kirche und ein paar Fachwerkhäusern, die meisten aus schlichtem, graugelbem Backstein gebaut, ins Gefäll der Wingerte eingeschmiegt, ... das weithin schwingende, wellige oder bucklige Ackerland, ... das flache Gelände der Obstkulturen, ... die sandigen Spargelfelder ..." In der Phantasie bevölkert Zuckmayer diese Landschaft mit Figuren der widersprüchlichen Geschichte, der tragischen wie der freundlichen Epochen. Aber: "Das Gesicht der Landschaft bleibt gelassen und anspruchslos. ..." Dies könnte der Kontext, die Anleitung zum Verständnis der Rheinhessen - Bilder Jean Mettens sein. Ebenso wie die Anmerkungen des Verfassers der "Rheinhessischen Volkskunde" von 1930, Wilhelm Hoffmann, der für diese Landschaft feststellt, sie zeige wohl "goldene Saaten in den Tälern und an den Höhen mehr oder minder edlen Wein, aber hochragende Bergesgipfel mitnichten noch zerklüftete Felsgebilde noch waldumrauschte Seen, sondern in der Haupsache hügeliges Land".
Für die Landschafts-Auffassung Mettens darf man auch einen poetischen Landsmann, den "Bauerndichter" Isaak Maus (1748 - 1833) aus Badenheim, zum Zeugen anrufen. In der blumigen, von Rokoko-Manier beeinflußten Sprache wirbt er in seinen 1786 erschienenen Gedichten für den Reiz der Landschaft, die nach der "Besitzergreifung" durch den Großherzog von Hessen - Darmstadt nach dem Wiener Kongreß 1816 allmählich die Bezeichnung "Rheinhessen" erhielt. Er fordert auf, "Sinn" dafür zu haben, was hier "die Natur uns bietet". Seine Bilder, seine Motive erinnern an Mettens Rheinhessen-Bild(er):

Hier schlängelt sich ein Silberbach
Durch bunt geschmückte Wiesen,
Die Weide strebt der Erle nach
Und diese jenen Riesen
Von Bellen, deren stolzes Haupt
Zum Staunen, königlich umlaubt,
Bis an die Wolken reichet.

Hier schlüpft ein Eidechs durch das Gras
Mit goldgesticktem Rücken,
Dort sucht ein aufgescheuchter Has
Sich in den Klee zu drücken,
Hier trägt ein Finkchen wohlgemut
Das Futter für die junge Brut,
Und dort schlägt froh die Wachtel.

Dort steht der kleine Halmenwald,
Hebt stolz die tausend Ähren,
Von deren reichlichem Gehalt
Sich Fürst und Bauer nähren.
Hier prangt ein Acker mit Gemüs,
Dort winkt die Traube - ach, so süß
Wie Honig aus der Blume.

Lobpreis der kleinen Welt und der kleinen Dinge, des Unspektakulären, des Schlichten, des Naturhaften.

"Wer Sinn für diese Szenen hat,
Lebt glücklich auf dem Lande"

lautet in Isaak Maus' Schlußstrophe die einfache Lebensdevise. Es scheint, als habe Jean Metten diese kleine heimatliche Welt überallhin mitgenommen, nach Leipzig, nach Rom. Dorthin nicht nur im Kopf, sondern auch in der Mappe mit seinen Radierungen vom Mainzer Dom, die er - ein Höhepunkt für den rheinhessischen Katholiken, Papst Pius XI. überreichen durfte. Wenn der junge Künstler sich an der Akademie für graphische Kunst in Leipzig die klassische "Zucht der Alten" erwarb, gerade Radierung und Buchkunst, wenn er nach klassischer Malertradition mit Heinz Müller-Olm durch Italiens berühmte Galerien und Sammlungen pilgerte, so trennte er sich doch nicht vom Umkreis der rheinhessischen Hügel. Weil er kein "modischer" Mensch war, zog ihn auch keine "modische" oder "moderne" Richtung in ihren Bann. Seine Arbeiten weisen ihn aus als beständig, aufgeschlossen, bedächtig, kritisch. Diese Tugenden bewahrten ihn vor den Versuchungen der Nazizeit, denen Künstler gerade mit eigener "Bodenhaftung" nur allzu leicht verfallen konnten. "Blut und Boden", systemgefällige "Heimatkunst", mannmännliche kraftvolle Bauernverherrlichung, "Gesundbrunnen Dorfgemeinschaft", bodenverwurzeltes "Brauchtum" - all das war gefragte Staatskunst. Metten blieb sich und seinem "heiteren" Rheinhessen - Bild treu. Seinen Freund Heinz Müller-Olm, der zu jener kleinen diskussionsfreudigen, auch weinseligen, als regimeabgewandte Nische gepflegten Runde in der "Schönen Aussicht" gehörte, traf bald nach Hitlers Machtübernahme der Kunstdiktator. Er wurde als "Entarteter Künstler" verfemt. Daß Metten sich bewußt dieser Kunstdiktatur verweigerte, zeigen die Arbeiten, die von ihm in der Ausstellung "Das zerstörte Mainz" 1943 gezeigt wurden. Gefragt waren pathetisch anklagende, zum "unbeugsamen Siegeswillen" aufrufende "Durchhaltebilder". Was Jean Metten mit seinen engeren Malerfreunden zeigte, fand marginale Erwähnung mit dem dünnen, aber von heute aus höchst ehrenden Hinweis auf "Erlebnistiefe und spürbare Liebe zur Heimat."
Mit diesen Empfindungen hat er zeitlebens sein Dorf gesehen und gemalt oder gezeichnet. Die Heuhaufen und Mühlen gehören in den Kanon dieser Motive, die Straßen, wie der Stadecker mit ihren typisch rheinhessischen "Chausseebäumen", die Zigeunerwagen, die Kartoffelernte, die Portraits der Nachbarn, - kräftige Bauerngesichter, Typen, Individuen, denen man die charakteristischen Merkmale des Rheinhessen ansieht: ein wenig Rechthaberei, Diskutierfreude, Trinkfreude, Kritiklust.
Über den künstlerischen Wert hinaus sind diese Bilder von hohem Erinnerungswert und haben nach der stürmischen Entwicklung und Veränderung für diese Dörfer dokumentarische Bedeutung. Dies gilt auch für den Zyklus der Radierungen "Mainzer Dom". Er ist ja entstanden in der Domrettung gegen Ende der zwanziger Jahre. Die Chance der durch die Bauarbeiten bedingten Schließung des Domes nutzte Jean Metten für seine ungestörte Arbeit. Der Dom - Zyklus steht in Mettens Werk eigenständig da. Wo immer er sonst Motive erfaßt, gestaltet, nimmt er seine Dorfwelt mit hinein. Sein Zyklus um die Kräuter und Blumen des "Würzwischs", der am höchsten Marienfeirtag, Mariae Himmelfahrt, am 15. August jährlich gebunden wird, zur Heilung, zur Abwehr, zum "Brauchen", steckt voller liebenswürdiger lokaler Details. Natürlich ist die Gottesmutter eine rheinhessische Bauersfrau mit Kopftuch. Und der Wegrain, die Felder, die Äckerstruktur, das alles ist seiner Erlebniswelt entnommen, das Heiligenhäuschen im Hintergrund steht auf dem Wege nach Ebersheim, und der Bachlauf meint die Selz.
Und dies gilt auch für eines seiner großen Werke, für sein imponierendes Alterswerk, mit dem er zugleich seine größte Enttäuschung erleben mußte: der fünfzehn Stationen - zu den vierzehn Leidensstationen auch die "Auferstehung" - umfassende "Kreuzweg". In der großen Ausstellung "Aufbruch nach 1945. Bildende Kunst in Rheinland-Pfalz 1945 - 1960", die im Jahre 1987 aus Anlaß des vierzigjährigen Bestehens des Landes Rheinland-Pfalz im Landesmuseum Mainz ausgerichtet wurde, zählt Jean Metten gerade mit diesem "Kreuzweg" zu den Künstlern des "Aufbruchs" nach der Stunde Null. Mit einem Bild "Christus vor Pilatus" ist Metten im Katalog vertreten, in der Ausstellung waren aus dem "Kreuzweg" die Stationen "Verurteilung" und "Kleiderberaubung" zu sehen. Der Text der Biographie vermerkt neben den Lebensdaten die Umstände dieses zuletzt verweigerten Auftragswerks:
"Diese Auftragsarbeit ist das Alterswerk eines Künstlers, dessen Leben sehr reich war an Enttäuschung und Zurücksetzung. Der "Kreuzweg" schöpft seine Gestalten aus einem einfachen, bäuerlichen Milieu, aus dem der Künstler selbst stammt und dem er ein Leben lang verwurzelt blieb. Das Bischöfliche Ordinariat Mainz verweigerte die Genehmigung zur Aufnahme der "Stationen" in die Nieder-Olmer Kirche."
Der "Kreuzweg" ist Teil des reichen Metten - Nachlasses. Wer ihn betrachten kann, dem offenbart sich die Leidensgeschichte Jesu in der bäuerlichen Welt Rheinhessens. Simon mit der Harke, das ist ein rheinhessischer Bauer auf dem Weg zum Acker, die Gesichter der Menschen um das Kreuz sind vertraut, Pilatus thront über einer aufgehetzten Dorfmeute, die nach Lynchjustiz schreit. Ausdrucksstark sind die Gesichter. Die Trauer, mit der Jesu Leichnam vom Kreuz abgenommen wird, ist rührend naiv. Die fünfzehnte Station, die "Auferstehung", blieb unvollendet ....
Die Skizzenbücher der letzten Lebensjahre Jean Mettens sind Fensterblicke ins rheinhessische Land, liebenswürdige Notate seiner Heimat. Kugelschreiber - Blättchen, Bleistift - Diarien, - Kinder, Kaninchen, Vögel, Blumen und die Dorfgasse. Die Reize der kleinen Dorfwelt, die gerade im Begriff ist, ihre letzte Heimeligkeit und Anmut preiszugeben. Es ist wie ein Epilog auf jene Heiterkeit und Schönheit, die er jahrzehntelang dieser Welt abgewonnen hat und für die er beharrlich und mit Liebe malend warb. Skizze 12. und 13. Oktober 1969: "Die kleine Meise ist wieder da ..." Sie bestätigt eine Feststellung des Nachrufs von 1971:
"Zur geübten Hand, zum geschulten Auge kam der Sinn für das besondere Detail und für das Unnennbare hinter den Dingen, das diesen Künstler über den Rang eines Heimatmalers erhob."
Wer diese scheinbar konturenlose, wenig poetische, ganz unromantische Landschaft der Nützlichkeit in ihrer Heiterkeit und ihren Reizen kennenlernen und verstehen will, lese Zuckmayer, Langgässer, Wilhelm Holzamer, Anna Seghers, um einige der großen Schriftsteller der Landschaft zu nennen. Aber er übersehe nicht die Möglichkeit des aufschließenden Blicks, die sich mit dem Werk Jean Mettens anbietet.












Jean Metten 1884 - 1971






Kindheit in der »Schönen Aussicht« –
Leben mit der Religion    


Ob der Knabe lange lebt, der da am 9. Mai 1884 in der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht« in Nieder-Olm geboren wird, ist nicht sicher. Die Kindersterblichkeit in jenen Tagen ist hoch. Und den Eheleuten Philipp und Apollonia Metten sind zwei von drei Kindern schon im Säuglingsalter weggestorben.
Sie taufen den Jungen am 11. Mai 1884 auf den Namen Johannes (Jean). Der Großvater, Johann Luckert, ist Pate.
Es ist ein einfacher Haushalt in der Wirtschaft an der Kreuzung Pariser Straße/Stadecker Chaussee. 1877 hatte Philipp Metten das Anwesen gekauft, ein Jahr vor seiner Hochzeit. Seit dem Bau der Bahnlinie 1871 ist die Lage der »Schönen Aussicht« längst nicht mehr so günstig, an der Straßenkreuzung zwischen der Verbindung Alzey-Mainz und dem Binger Land.
Die Kundschaft besteht zumeist aus Bauern, die in der benachbarten Hubertus-Mühle ihr Korn mahlen lassen. Und zwischenzeitlich bei einem Schoppen Wein in der Wirtschaft ihr Vesperbrot verzehren.
Philipp Metten lebt denn auch als Land- und Schankwirt. Seinen Wein baut er selbst an, zudem betreibt er ein klein wenig Landwirtschaft. Nach heutigen Maßstäben sind die Lebensverhältnisse ärmlich. Auch im Vergleich zu anderen Nieder-Olmer Bauern ist der Wohlstand der Mettens gerade durchschnittlich. Doch es reicht, die schließlich fünfköpfige Familie zu ernähren. Denn zu den Kindern Apollonia (geb. 26. 8. 1879) und Johannes wird am 15. Januar 1888 Andreas geboren. Die Familie Metten stammt aus dem Rheinhessischen. Die Vorfahren waren Winzer, Bauern, Bäcker, keine Menschen höherer sozialer Herkunft oder überdurchschnittlicher Bildung also.
Das Milieu, in dem die drei Kinder aufwachsen, ist typisch für Rheinhessen dieser Zeit. Das karge, arbeitsreiche Leben richtet sich nach dem Kirchenkalender. Religion und tägliche Arbeit sind untrennbar miteinander verbunden. Selbstverständlich sind Morgen-, Tisch- und Abendgebete – Katholizismus wird gelebt.
Der liturgische Kalender bietet den Gläubigen oft Gelegenheit, den Glauben an festgelegten Riten nachzuvollziehen. Sei es am für Nieder-Olm so wichtigen Sebastianustag (der heilige Sebastian hat – der Überlieferung nach – Nieder-Olm im Mittelalter von der Pest befreit. Somit gilt er als Schutzheiliger des Ortes), sei es zu Mariä Lichtmeß, der Fastenzeit oder Christi Himmelfahrt. Gottesdienst und Bittprozessionen werden zu inbrünstigem Ausdruck naiven und bewußten Glaubens. Ein Glaube, der im jungen Johannes Metten tiefe Wurzeln schlägt. Die Formen, in denen die katholische Religion sich äußert, bestimmen Mettens Lebenslauf und später sein künstlerisches Werk.
Hervorzuheben sind Karfreitag und Mariä Himmelfahrt. An Karfreitag, dem zweiten der drei strengen Fastentage, wird mittags der Kreuzweg gebetet – eine Erfahrung, die sich in Mettens so tragischem Alterswerk niederschlagen wird. – Zu Mariä Himmelfahrt erfolgt die Kräuterweihe. Heilkräuter aus Feld und Flur werden schon Tage vorher gesammelt. Es gibt genaue Bestimmungen, welche Pflanzen dazugehören, sie finden nach der Weihe als Heilkräuter vielfach Verwendung. Krankem Vieh werden sie im Wasser als Tee gereicht. Dem Volksglauben nach sollen die Kräuter – unter dem Dachstuhl aufgehängt – auch vor Blitzschlag schützen. Der Würzwisch, wie die gesammelten Heilkräuter genannt werden, wird Thema des zweiten großen Zyklus im Mettenschen Werk werden.
Das Religions- und Naturverständnis, mit dem der junge Johannes Metten aufwächst, wird am besten durch das Erntedank-Gebet gekennzeichnet, das zum Erntedankfest am ersten Oktobersonntag gebetet wird:
»Allmächtiger Gott, Spender alles Guten. Die ganze Welt hast Du ins Dasein gerufen. Alles erhältst Du mit Deiner Allmacht. Für Deine Geschöpfe sorgst Du in väterlicher Güte. Du tust Deine Hand auf und erfreust alles, was da lebt, mit Segen. Du hast die Früchte des Feldes reifen lassen. Wir danken Dir von Herzen für den Erntesegen dieses Jahres. Deine Liebe und Güte hat uns reich beschenkt. Nie wollen wir vergessen, gütiger Vater, daß jede gute Gabe von Dir kommt. Zu Deiner Ehre und zu unserem Wohle wollen wir sie gebrauchen. Aus Dankbarkeit wollen wir unsere notleidenden Brüder und Schwestern an Deiner Spende teilnehmen lassen. Als treuer Verwalter Deiner Gaben wollen wir ihnen beistehen, damit auch sie Deine Vatergüte preisen können. Deine Engel mögen uns einst als reife Garben zur ewigen Ernte rufen. Dann laß uns alle, arm und reich, teilnehmen an dem Gastmahl, das Du denen bereitet hast, die Dich lieben. Durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.«
Zu den kirchlichen Festen kommen die privaten: die Erstkommunion als Höhepunkt im jungen katholischen Leben, bei Johannes Metten am 25. 4. 1897, und die Firmung (13. 6. 1897). Für den jungen Johannes verwachsen die liturgischen Jahressstationen untrennbar mit dem täglichen Leben. Seine Weltanschauung, sein moralisches Empfinden und sein Anspruch an die Mitmenschen werden durch sie geprägt.
Weil die wirtschaftlichen Verhältnisse bescheiden sind, werden die Metten-Kinder früh zu landwirtschaftlicher Arbeit angehalten. Sie lernen somit die Nöte des Bauern, dessen Kampf mit der Natur und dessen Abhängigkeit von Gottes Fügung kennen.
Das Wachsen und Werden des Korns, des Weines, des Obstes, das Gedeihen der Kräuter in den Wiesen: all das wird bewußt als Werk des Schöpfers angenommen. Es verwurzelt einen tiefen, durch die eigene Anschauung der Natur bestätigten Glauben. »Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde ...«, dieser Beginn des Glaubensbekenntnisses ist für die Mettens keine Worthülse. Sie glauben und leben danach. Die drei Metten-Kinder wachsen also in Ehrfurcht vor der Schöpfung auf, deren Kraft sie im jahreszeitlichen Wechsel intensiv wahrnehmen und erleben. Die Natur, das Leben, wird als Ausdruck von Gottes Willen angenommen.
1890 wird Johannes Metten in die Gemeinde-Schule Nieder-Olm aufgenommen. Sein erstes Zeugnis stammt aus dem Schuljahr 1895/96, in dem er die erste Knaben-Klasse besucht. Klassenlehrer August Löffler beurteilt sein Betragen mit »gut«, Fleiß und Fortschritte jeweils mit »im ganzen gut«. Damit gehört Johannes zu den besseren seines Jahrganges, auch wenn er kein herausragender Schüler ist. Im folgenden Schuljahr 1896/97 sind die Noten ähnlich. Erst im Entlassungsjahr 1897/98 ändert sich das. Sein Betragen wird als »recht gut« (= Note 1), Fleiß und Fortschritte mit »gut« bewertet.
Vom 9. November 1898 bis zum 28. Februar 1899 besucht Johannes noch die Fortbildungsschule Nieder-Olm, geführt von Lehrer Klein. Mettens Bildungsweg unterscheidet sich somit nicht von dem anderer Nieder-Olmer seines Jahrgangs. Er hat die nötigen Grundlagen, um als Bauer oder Wirt leben zu können. Die höhere Schulbildung bleibt ihm – schon aus finanziellen Gründen – versagt.
Dennoch erweitert sich der geistige Horizont des Knaben. Pfarrer Johannes Baptist Cäsar Hesch, der von 1893 bis 1913 in Nieder-Olm wirkt, fördert talentierte Jungen. Nur wenige Haushalte in der Gemeinde können ihren Kindern eine weitere Ausbildung ermöglichen. Hesch zieht die Knaben heran, lehrt sie Latein und Allgemeinbildung – natürlich auf religiöser Basis. Er legt die Grundsteine zu Karrieren als Pfarrer oder Verwaltungsleuten – vielleicht auch als Künstler?
Wie einige seiner Alterskameraden profitiert Jean Metten von dieser Unterstützung. Gleichwohl läßt sich nirgends ein künstlerischer Einfluß festmachen. Weder in der Schule noch im Bekannten- und Verwandtenkreis lassen sich weitere Personen oder auch nur Ereignisse nachweisen, die ihn der Kunst nahegebracht haben könnten.
Wie der Entschluß in Jean Metten reift, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, wird kaum zu rekonstruieren sein. Tatsache ist, daß der 14jährige mit Fleiß aus daheim zugänglichen Bildbänden Gemälde abzeichnet. Möglich, daß der Knabe über die Schule zur bildenden Kunst kommt. Er soll als 12- bis 15jähriger eine Madonna gemalt haben.
Jeans Schwester Apollonia trägt eine kirchliche Zeitung aus. Die Exemplare für Nieder-Olm holt sie jeweils im Kapuzinerkloster in Mainz. Dort – so eine Sage – hat sie einem Kapuzinermönch Arbeiten ihres Bruders gezeigt. Der habe das Talent erkannt und darauf gedrängt, daß es gefördert werde. – Keine dieser Erklärungen ist zu belegen.
Klar ist, es kann mit Mettens Wunsch nach einer künstlerischen Laufbahn nicht ohne Konflikte abgegangen sein. Zum einen ist er als ältester Sohn automatisch Haupt-Erbe des väterlichen Betriebes. Zum anderen wird bei den herrschenden ärmlichen Verhältnissen im Elternhaus jede Arbeitskraft gebraucht. Für »Fisematente«1 ist kein Platz, und Künstler werden wollen, das sind für den Rheinhessen »Fisematente«.
Die Mutter, ein zierliches Wesen, ist von Haus aus Näherin, keine Bauersfrau. Sie fällt daher für die Feldarbeit weitgehend aus. Der Vater ist früh krank, hat Gicht. Jean erzählt später, er habe dem Vater die Schuhe zugebunden, weil dieser sich nicht habe bücken können.
Nach seiner Schulentlassung, als 15jähriger, arbeitet Jean acht Jahre im väterlichen Betrieb, verliert somit acht Jahre der künstlerischen Entwicklung.
Die Mettens leben, im Dorf zwar bekannt, so doch recht abgeschieden. Die »Wirtschaft zur Schönen Aussicht« liegt außerhalb. Selten kommen Leute aus dem Ort heraus. Natürlich kennt man sich, spricht miteinander nach den Gottesdiensten, ist sich nicht gram oder fremd, doch man kommt sich auch nicht allzu nahe. Lediglich die Nachbarschaft hat engeren Kontakt zum Hause Metten. Denn »Nachbarschaft« heißt zu jener Zeit, ganz ungezwungen im Hause des anderen zu verkehren.
Die Familie Metten lebt arbeitsam, bescheiden. Es sind keine Feste-Feierer, und die drei Heranwachsenden machen auch nicht durch engere Beziehungen zu anderen von sich reden. Nur Apollonia, die Tochter, würde gerne heiraten. Doch ihr Auserwählter ist evangelisch. Das gilt als der Hinderungsgrund schlechthin. So verbringt sie ein selbstloses Nonnendasein im weltlichen Elternhaus. Brüder und Vater arbeiten im Feld, wo auch schon mal etwas Neues ausprobiert wird. Obst- und Spargelanbau etwa.
Der Umbruch kommt im Jahre 1907. Am 24. Juli stirbt Philipp Metten. Die Geschwister, die alle gerne weiterführende Schulen besucht hätten, müssen sich zusammenraufen. Jetzt fällt die Entscheidung: Jean geht auf die Kunstgewerbeschule in Mainz. Andreas tritt zurück und übernimmt 19jährig den Betrieb.
Wie diese Entscheidung gefallen ist, läßt sich schwerlich ermitteln. Ob Jean sich mit der Autorität des Älteren durchsetzt oder einfach sein Talent von den Geschwistern als ausschlaggebend anerkannt wird? – Gleichwie, die Geschwister leben mit der Mutter und arbeiten gemeinsam für den Lebensunterhalt.






Start mit acht Jahren Verspätung –
Erste Ausbildung in Mainz    


Die Kunstgewerbeschule und Handwerkerschule Mainz hat in Deutschland einen ausgezeichneten Ruf. Sie untersteht dem Großherzoglichen Ministerium des Innern, Abteilung für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe. Die Hauptlehrer sind Staatsdiener. Die Kunstgewerbeschule hat zum Zweck, »den dem Handwerk, Gewerbe und Kunstgewerbe sich widmenden Leuten für ihren Beruf nötigen Fachunterricht, auf die Praxis gestützt, zu gewähren, und dieselben hierdurch zu tüchtigen Leuten ihres Berufes heranzubilden«.
Die Fachschulen sind nach Möglichkeit mit Lehrwerkstätten verbunden. »Der Schwerpunkt der künstlerischen Erziehung liegt neben der Einführung in die Konstruktion, im Studium der Natur, ..., der Selbständigkeit der Auffassung, der Entwicklung der schöpferischen Kraft des Schülers, der Erhaltung und sorgfältigen Ausbildung der Eigenart seiner Befähigung.«
Dabei soll kein internationales Kunstgewerbe gepflegt werden. Heimatkunst, Landes Art und Sitte, die Gegend, werden zum Studium gemacht.
Zur Aufnahme in die Schule sind unter anderem erforderlich:
– Mindestalter von 15 Jahren,
– Zeugnis über sittlich gute Aufführung,
– Verpflichtung zum regelmäßigen Besuch,
– Nachweis der erforderlichen künstlerischen Befähigung.
Nichtbefähigte Schüler werden nicht aufgenommen. Am Schluß jeden Schulhalbjahres finden Versetzungs- oder Übergangsprüfungen statt. Über jeden Schüler wird im Gesamtlehrerkollegium in jedem Halbjahr abgestimmt: »Minderwertige werden nicht versetzt und zum Austritt veranlaßt.«
Da sich die Schule nicht nach den Unterrichtsmethoden eines Gymnasiums oder einer Realschule richtet, versteht sie sich als »vorbereitende Schule«, die von den Schülern meist schon im 18. Lebensjahr verlassen wird, um weiterführende Schulen zu besuchen oder in Berufe einzutreten.
Als Jean Metten im Winterhalbjahr 1908 an der Kunstgewerbeschule beginnt, steht er bereits im 24. Lebensjahr. An Schulgeld fallen pro Halbjahr 50 Mark an. Material muß er zudem auf eigene Kosten besorgen.
Die kleine Wirtschaft in Nieder-Olm muß also nicht nur den Ausfall einer weiteren Arbeitskraft hinnehmen. Vom ersten Tag der Betriebsübernahme an ist Andreas Metten auch der Mäzen seines Bruders.
Zwar können unter bestimmten Voraussetzungen Schulgeld-Ermäßigungen oder Stipendien erreicht werden. Doch ist nicht bekannt, ob Metten davon profitiert. – Die finanzielle Belastung jedenfalls ist erheblich. Jean Metten fährt täglich frühmorgens mit der Bahn nach Mainz. In zwei Halbjahreskursen der Vorschule und sechs der Fachschulen erlangt er ein fundiertes handwerkliches Rüstzeug.
Die Schüler werden angehalten, Arbeitsmappen zu führen, in denen zumindest grob der Unterrichtsstoff nachvollzogen werden kann. Gebrauchskunst – eben Gewerbekunst steht im Vordergrund: reichhaltige Zierleisten, Ornamentik für Bücher und Werbebroschüren, Etiketten für Gebrauchsgüter, Tier- und Märchenszenen für die so populären Grußkarten, Ansichtszeichnungen, die als Illustrationen für Reiseführer und Prospekte dienen, naturgetreue Tierzeichnungen zur Illustration von Fachbüchern. All dies ist in Mettens Mappe ausgereift, unter dem Einfluß des verschwenderischen Jugendstils; aber eben deshalb genauso reproduzierbar als profilarme Massenware erhalten.
Doch neben diesen – zweifellos handwerkliches Können voraussetzenden – Schularbeiten macht sich Metten an Landschaftszeichnungen, in Blei und Tusche, die eigenständige, vom erlernten Schulbetrieb weit entfernte Darstellungsmöglichkeiten aufzeigen. Im »Mombacher Sand« findet er seine Motive. Und – natürlich auch jetzt schon – rund um seinen Heimatort Nieder-Olm.
Dem Anspruch der Kunstgewerbeschule, die handwerklichen Grundlagen für Gebrauchskunst zu schaffen und darüber hinaus »Heimatkunst, Landes Art und Sitte« den Blick zu schärfen, wird der Schüler Metten gerecht. Er ist an der Schule erfolgreich. Der Jahresbericht an den Großherzog für die Jahre 1908/9-1909/10, seinen Anfängerjahren also, erwähnt Metten unter den herausragenden Schülern. Bei der Weihnachtsaufgabe 1909/10, gestellt von Direktor Kübel, »eine Figurengruppe in Silhouette, Papierschnitt oder Schablonenarbeit«, erringt er einen von fünf ersten Preisen. Auch der Bild-Anhang des Berichtes, in dem herausragende Schülerarbeiten dem Großherzog präsentiert werden, zeigt einen Linoleumschnitt von Jean Metten – ein Landschaftsmotiv.
Wahrscheinlich ist Metten im folgenden Jahresbericht als nun fortgeschrittener Schüler erneut mit seinen Arbeiten hervorgetreten, doch der Bericht für die Jahre 1910 bis 1912 ist nicht aufzufinden. Ebensowenig wie Prüfungsunterlagen oder Zeugnisse aus dieser Zeit vorhanden sind.
Im Heimatort Nieder-Olm wissen wenige, daß »der Metten« eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen hat. Und Jean selbst dürfte sich – zumindest in den ersten Schuljahren – kaum über seinen weiteren Werdegang im klaren sein. Als Gebrauchsgraphiker, Werbezeichner könnte er sich wahrscheinlich ein Auskommen verschaffen. Aus dem Jahr 1912 datiert das einzige erhaltene Produkt seiner kunsthandwerklichen Ausbildung: eine Erinnerungs-Urkunde an die Primiz von Jakob Seeger, einem Nieder-Olmer Geistlichen.
Daß, wie Jean Metten es selbst ausdrückt, »die Kunst auf ihn wartet«, er also eine weitere künstlerische Ausbildung absolvieren müsse, das erkennt der Schüler während seiner Zeit an der Kunstgewerbeschule. »Deren Enge und Unzulänglichkeit erkennt er für sich, als er zum ersten Mal eine rechte Ausstellung graphischer Kunst sieht. Da macht er den Sprung von der Mainzer Kunstgewerbeschule zu der Leipziger Akademie«, schreibt später sein Freund, der Verleger und Dichter Richard Knies.
Der Entschluß, so dringend notwendig er für Jean Metten ist, wird nicht von ihm allein gefällt. Denn der Verzicht auf Broterwerb als Gebrauchskünstler und die Entscheidung zu einer mehrjährigen weiteren Ausbildung müssen finanziell abgesichert sein. Einmal mehr muß also die Familie – in erster Linie der Bruder Andreas – den Wunsch Jean Mettens mittragen.
Das Verhältnis der Brüder ist – trotz aller materiellen Schwierigkeiten – ideal für Jeans Werdegang. Die beiden ergänzen sich. Nur vordergründig ist Andreas der Mäzen und Jean der Kunstschaffende. Gemeinsam leben sie auf einer Bildungsstufe, die weit über den Horizont eines rheinhessischen Bauern hinausgeht. Sie bilden sich literarisch und politisch. Geprägt vom Katholizismus verneinen sie dennoch nicht die aufbrechende Moderne.
Die Zeitschrift »Hochland«, 1903 gegründet, ist seit spätestens 1910 im Hause Metten Standard-Lektüre. Die katholische Monatsschrift versucht mit Erfolg, den nur noch als »Bauernreligion« darniederliegenden Katholizismus mit dem Zeitgeist, der Wissenschaft, der Literatur zu vereinbaren. Nicht, um die Religion den modernen Zeiten anzupassen. Sondern, um das Spannungsverhältnis von Glaube und Wissen aufzulockern.
Der Kunst, hier besonders der Literatur, kommt dabei eine Schlüsselstellung zu: »Nur die Erziehung des Menschen zu ästhetischem Empfinden, zum Verständnis und zur Erkenntnis großer und echter Literatur, konnte Ausweg und Mittel zur Lösung der geistigen Krise sein; natürlich mußte dies im Rahmen einer allgemeinen Kulturerneuerung geschehen, die wiederum nur durch religiöse Vertiefung geleistet werden konnte«, faßt der Gründer von »Hochland«, Carl Muth, zusammen.
Die Metten-Brüder verfolgen diese auf der katholischen Religion basierende, offensive Geisteshaltung mit innerem Engagement, tauschen sich darüber aus. Und was oben über Literatur zitiert ist, mag von Jean Metten durchaus für die bildende Kunst übernommen worden sein.
Die Brüder befruchten einander in ihren Diskussionen. Andreas, der selbst als Land- und Schankwirt kaum aus seinem engen Betrieb herauskommt, profitiert davon, daß Jean sich der Kunst widmet und somit kulturelles Leben in die »Wirtschaft zur Schönen Aussicht« trägt.
So schmerzt es Andreas Metten nur finanziell, daß Jean mit seinem Studium in Leipzig lediglich Kosten verursacht und als Arbeitskraft in der Landwirtschaft endgültig ausfällt. Andreas gibt gerne: als Christ, als Bruder und als Mensch, der durch Jeans Schaffen auf seine Weise gewinnt.






Ohne Illusion in Leipzig –
Kein Freund »moderner Kunst«    


Die Leipziger Akademie wurde 1764 gegründet. Der wachsende Buchhandel begünstigte die Entwicklung der Universität. Bevorzugt wurden die graphischen Künste, mit künsterlischem und technischem Unterricht in den verschiedenen Sparten. Dazu wurden Hilfswissenschaften wie Anatomie, Kunstgeschichte und Archäologie gelehrt.
1899 erhielt die zwischenzeitlich Kunstgewerbeschule bezeichnete Akademie den Namen »Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe zu Leipzig«.
Konsequent werden seither graphische und buchgewerbliche Künste betont: »Der gesamte Unterricht zielt darauf hin, die Herstellung des Buches und des gedruckten Einzelbildes so zu lehren, daß das Resultat in ästhetischer und technischer Beziehung den höchsten Anforderungen entspricht. Brauchbare Kräfte für die graphische und buchgewerbliche Industrie zu bilden, darin erkennt die Akademie heute ihre Hauptaufgabe. Daneben wird freilich dafür gesorgt, daß auch der graphische Künstler, also der Radierer, auf seine Rechnung kommt.«
Die Leipziger Akademie ist nicht nur als einzige staatliche Institution ihrer Art im Deutschen Reich führend. Sie genießt Weltruf.
Als sich Jean Metten am 7. Oktober 1912 anmeldet, sind seine Berufsziele: Graphiker und Buchgewerbezeichner; und das, da er ganz selbstbewußt seinen Beruf als »Zeichner« angibt.
Doch Illusionen kommen erst gar nicht auf. Die Akademie selbst weist darauf hin: »Der künstlerische Beruf ist, wenn nicht hohe und starke Begabung da ist, wirtschaftlich gefährlich und er beansprucht in der Regel ein Studium von 7 bis 10 Jahren zumeist ohne Einnahmegelegenheit ... Im allgemeinen kann man sagen, daß für diejenigen Studierenden, die nicht ein Vermögen haben und in der Schule kein Interesse und keine Geschicklichkeit für gewerbliche Arbeiten zeigen, der Künstlerberuf ein großes Risiko ist ... Auch künstlerischen Begabungen aber, die freie selbständige Produktion als Lebensberuf erstreben (eigene Verlagswerke, Künstlergraphik, Originalzeichner) und auch hier schöpferisch fruchtbar werden, müssen, wenn sie sich durchbringen wollen, erhebliche Geldmittel besitzen ...«
Der junge Mann aus dem bäuerlichen Nieder-Olm, der da in der Moritzstraße 8 ein Zimmer nimmt, verfügt nicht über erhebliche Geldmittel. Er wohnt auf einem Flur mit dem Markthelfer Karl Przesang und dem Lagerdiener August Schwabe – eine Nobeladresse ist das nicht. Dennoch müssen Mutter und Geschwister daheim einiges aufwenden, um das Studium zu finanzieren. Denn Studenten geht es zu jener Zeit allgemein nicht gut, Leipzig ist kein billiges Pflaster. Doch die Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit Mettens hilft ihm leicht über all das hinweg. Er lernt Zeichnen und Entwerfen nach dem Stilleben, Schriftschreiben, Anatomie, Pflanzenkunde, Tierkunde, Radieren, Ätzen, Holzschneiden und Drucken. Das ist Mettens Stundenplan. Seine Noten weisen durchgehend gute Leistungen, sehr guten Fleiß und Betragen aus. Einzig in Bau- und Zierformenlehre erreicht er das Klassenziel nicht. Im Zeugnis findet sich der Vermerk »Wiederholen«. Doch Metten wiederholt nicht. Offenbar ist er mit dem Lehrer nicht klargekommen.
Auch der Anatomie-Unterricht macht ihm keinen Spaß. Er muß beim Sezieren von Leichen dabei sein und macht das nur widerwillig mit.
Sein zweites Jahr in Leipzig bringt ihm in den Fächern »Bau des Menschen«, »Holzzeichnen, -schneiden und -drucken« sowie »Radieren, Ätzen und Drucken« erneut gute Benotungen.
Als sich im Winter 1913 für einen Ergänzungskurs zum Holzschneiden 22 Schüler anmelden, jedoch nur 12 zugelassen werden können, ist Metten unter den Auserwählten. Mit einem Mitschüler wird er sogar als besonders talentiert hervorgehoben.
Trotz der bescheidenen Verhältnisse, mit denen sich Metten arrangieren muß: die Zeit in Leipzig gefällt ihm. Er richtet sich ein und macht Erfahrungen. Über Dinge, von denen er sicher schon wußte, die sich beim Miterleben jedoch besonders einprägen. Er erfährt, daß Begüterte ihren »Doktor« und ihr Examen kaufen können, entdeckt eine Welt voller Lug und Trug. Besonders schlagende Verbindungen haßt er: »Daß es Menschen als Sport ansehen können, sich die Fresse zu verhauen und nachher stolz darauf sind.«
Er geißelt Zustände, wie sie in »Simpl«-Witzen2 karikiert werden. Professor: »Scheußlich, dieser junge Mann.« – »Ja, der ist in einer schlagenden Verbindung.« »Ach so, schneidiger junger Mann, das.«
Künstlerisch aber geht Jean Metten seinen Weg. Es entstehen prächtige Holzschnitte, gute Akte – auch als Radierungen. Seine Themen sind vielfältig, aber stets weltlich. Die »Leipziger Messe« beispielsweise läßt ihn Radierungen machen, die ahnen lassen, daß alle handwerklichen Voraussetzungen zum großen Künstler gelegt sind. Doch so vielfältig und ansatzreich die schulischen Werke sind – sie werden auf sein späteres Schaffen keinen Einfluß haben.
Auch moderne Kunstbestrebungen gehen an ihm vorbei. Später erzählt er: »Ich geh' durch Leipzig und bleib da auf einmal an einem Laden stehen. Da seh' ich ›moderne Kunst‹. Dann werd' ich in meinem Kurs mit 'ner Frau bekannt. Und diese Frau war diejenige, die in Leipzig schon ausgestellt hatte. Die hatte die ›moderne Auffassung‹. Jedenfalls lern' ich die näher kennen. Und warum war das eine ›moderne Künstlerin‹? Weil sie nicht malen konnte. Das war diejenige von uns, die nicht malen konnte. Und die hat ›moderne Kunst‹ gemacht.«
Diese Erzählung ist eines der wenigen Zeugnisse von Metten-Äußerungen über Kunst. Nur selten redet er über das Schaffen anderer. Doch ist vieles mit seinem Kunst-Verständnis nicht vereinbar. Er, der religiöse Mensch, sieht Kunst als Hymne an die Schöpfung, als Gutes, Wahres, Schönes an. Er weigert sich, das Verwerfliche, vor dem er als denkender und erfahrener Mensch nicht die Augen verschließt, in seiner Kunst zu verarbeiten. Mag er soziale Mißstände sehen, darüber reflektieren, philosophieren, in Worten nach Änderungen verlangen. – Den Bettler auf der Straße stellt er nicht dar. Er versteht seine Kunst nicht als Mittel zum Anklagen oder Umformen. Sie soll loben. Zeitgenössische Kunstströmungen gehen an ihm spurlos vorbei. Weil Metten so zurückhaltend ist, müssen wir auf indirekte Quellen zurückgreifen, um sein Urteil zu erfahren.
So schreibt zum Beispiel ein guter Freund in späteren Jahren (1951) unwidersprochen – anscheinend mit Wissen um die Einigkeit mit dem Adressaten – über eine Max-Beckmann-Ausstellung: »Diese Ausstellung ist beleidigend für die menschliche Würde und die gottgeschaffene Natur. Im Handwerklichen miserabel, in den malerischen Motiven Schläge ins Gesicht, von Kunst nicht eine Spur, im Ästhetischen tief unter jeder Kultur.«
Zehn Jahre später derselbe Freund: »Hier wird in einer Ausstellung der Akademie der Künste der englische Bildhauer Henry Moore gefeiert. Wir sahen uns die Ausstellung an, können aber den Lobeshymnen gewisser Kunstkritiker nicht folgen.«
Und 1966 heißt es in einem Brief einer Bekannten an Metten: »Mir geht es wie Ihnen. Ich habe mir schon öfters die neuen Kunstformen erklären lassen, von Leuten, die lange studiert haben. Aber trotzdem muß ich vieles ablehnen ... Ich sehe weder Kunst, Geschick, Geschmack oder Schönheit in diesen Sachen. Es gibt natürlich Ausnahmen, und vielleicht war es früher genauso, nur hatten die Dilettanten weniger Zeit und Geld, es war schwieriger in den alten Artformen, den Kennern etwas vorzumachen.«
Im gleichen Jahr schreibt Metten selbst: »Op Art' erscheint auch in Deutschland. Gerade schrieb mir ein Historiker aus Berlin. Er hätte eine Ausstellung gesehen von einem deutschen Maler, der in Norwegen seit längeren Jahren wohnt, mit auf Metallplatten gebrachten Scherben, Korken, Draht, Industrieabfällen und Blechstücken. Ein ›Bild‹ von 3 Metern Höhe, 11 Metern Länge sei dabeigewesen. Da kann ich nicht mit.«
Auch 50 Jahre früher kann Metten mit anderen Kunstauffassungen nicht mit. Er setzt sich mit ihnen auch theoretisch nicht auseinander. Er will sich nur in Techniken vervollkommnen. Die Professoren Kolb (Radierung) und Bossert (Holzschnitt) sind herausragende Lehrer, die freilich sein späteres Werk nicht beeinflussen. Denn das ist fest an die Heimat gebunden.
Ein reger Briefwechsel läßt die intensive Verbindung nach Hause nie abbrechen. Er empfindet die Trennung von der rheinhessischen Heimat positiv. In Leipzig lernt er Nieder-Olm mit anderen Augen sehen. Nicht, weil es ihm zu eng oder zu provinziell ist. Dazu verbindet ihn zu viel mit dem Ort.
Trotzdem muß er früher zurück als ihm lieb ist.






Kanonen statt Kunst –
Ein Pazifist als Soldat    


Als Jean Metten am 15. Juli 1914 von der Akademie abgeht, ist der Erste Weltkrieg längst unausweichlich. Zum allgemeinen Säbelrasseln waren am 28. Juni die Schüsse von Sarajewo gefallen. Genau einen Monat später erklärt Österreich-Ungarn den Krieg an Serbien. Am 1. August macht Deutschland mobil: Kriegserklärung an Rußland, zwei Tage später an Frankreich. Gleichzeitig marschieren deutsche Truppen in Belgien ein.
Jean Metten, der vor seinem Studium vom Wehrdienst befreit war, verbringt die ersten Kriegsmonate in Nieder-Olm. Zum Krieg hatten die Mettens schon vor 1914/18 eine eindeutige Haltung. Für die Familie bedeutet es ein Verbrechen der Menschheit, überhaupt Krieg zu führen. Für den franzosenfreundlichen Andreas noch mehr, als für den in allem gemäßigteren Jean, ist alles Militärische mit Preußentum gleichzusetzen. Und wenn nach eigenen Kriegserlebnissen später von »unbändigem Haß« auf Militär und Preußen gesprochen wird, so herrscht vor 1914 zumindest Ablehnung. Traditionell gewachsen in Rheinhessen, geschürt schon durch den Deutschen Krieg 1866.
Die Haltung ist in Wilhelm Holzamers Roman »Vor Jahr und Tag« nachzuvollziehen: »Wenn's uns alle kost' – alle miteinander – preußisch werden wir nit, lieber österreichisch! Oder lieber wieder französisch – und wenn das nit sein kann: es lebe die Republik!« – Die innere und äußere Freiheit ist dem Rheinhessen zu teuer, als daß er sich mit Säbelrasseln, dem System von Befehl und Gehorsam anfreunden kann. Das militaristische Preußen wird deshalb verabscheut. Mit den Franzosen hingegen verbindet die Rheinhessen eine kaum erklärbare Sympathie. Bei Metten äußert sie sich darin, daß er früh seinen Vornamen »Johannes« in »Jean« abändert. Dies geschieht schon vor seiner Zeit in Leipzig, auch wenn er offizielle Dokumente manchesmal mit Johannes unterschreibt. Wahrscheinlich wurde Metten schon als Knabe »Jean« gerufen – eine im rheinhessischen Sprachgebrauch durchaus übliche frankophone Verkürzung.
Lehnt Metten Krieg schon grundsätzlich ab, so ist er mit den deutschen Kriegszielen erst recht nicht einverstanden. Im Juni 1916, der Krieg tobt seit zwei Jahren, er selbst ist schon 15 Monate im Feld, schreibt Jean nach Hause: »Freier Mann im für die Freiheit der Meere kämpfenden Deutschland. – Könnte bald ein Jugend-Simplwitz werden.«
Daß er alles andere als ein Verfechter des Deutschen Kaiserreiches ist, sondern gerade die Mißstände im Auge hat, zeigt ein früher Brief aus dem russischen Felde, in dem Metten unverhohlen Sympathie für die gesellschaftlichen Entwicklungen in Rußland hegt:
24/10/15 »Liebe Mutter und Geschwister.
Der Abwechslung halber mal einen ›russischen Briefbogen‹, d. h. ein Blatt aus einem russischen Klassenbuch oder so was ähnlichem. Liegen nämlich in einer Schule, wie ihr ja schon wißt. Und da steht uns die ganze Bibliothek zur Verfügung, resp. zur Benutzung – doch zum Lesen wird wohl wenig Gebrauch davon gemacht werden. Ob es wohl recht ist? Was ist im Krieg Recht? Unendliche Werte gehen verloren, worüber sich niemand aufregt. – Heute mal ganz dienstfrei, wegen Jahrhundertfeier. Durchstöberte die russische Bibliothek, die größtenteils aus Lehrbüchern besteht. Überhaupt scheint Rußland sehr viel Wert auf neue meist jedoch erst in letzter Zeit entstandene Schulen zu legen. – Wie man 1870 sagte, der deutsche Schulmeister habe geholfen, den Krieg zu gewinnen, so glaube ich bestimmt, würde es der russische Lehrer, der den Krieg in zehn Jahren gewonnen hätte. Im kleinsten Hüttchen Schreibhefte – auch überall Zeitungen, Zeitschriften, die deuten, daß Rußland in der Entwicklung begriffen ist. – Die Lehrbücher sind den Illustrationen nach sehr geschickt zusammengestellt. Doch alle neueren Datums. Viele ähneln ganz den unseren. Über manche war ich ganz erstaunt. Aber auch sozial soll die Schule wirken – deren große Bedeutung Rußland erkannt zu haben scheint. Habe eben neben mir ein Lesebuch mit Illustrationen. Das Deckenbild kündet für das im Klassenkampf das größte leistende Rußland gerade ein neues Morgenrot. Entstanden ist das Buch 1914. Es stellt eine Dorfstraße dar, wo aus der Schule die Jugend heimkehrt. Auf dem Felde pflügen, säen und arbeiten Landleute. Im Vordergrund – ein großes Programm bedeutend – das Adelskind – das Proletenkind – lesend im Schulbuche, das das Bürgerkind in Händen hält. In Charakter gut dargestellt, Rußland war im Werden begriffen – und nun diese Störung ...«
Es ist eine Ironie des Schicksals, daß Jean Metten nach Osten muß, als er neun Monate nach Kriegsbeginn einrückt. Er wird am 6. April 1915 eingezogen. Als Rekrut teilt man ihn dem Armierungsbataillon 45 zu. Neunzehn Tage nach der Einberufung datiert sein erster erhaltener Brief aus dem Feld: »Spiergsten, Armierungsbatl. 45, 4. Komp. 5. Zug.«
»Liebe Mutter und Geschwister.
Endlich mal einen ruhigeren Sonntag seit unserer Einrückung. Wie ging doch alles so schnell! Einkleidung und Abmarsch! – Die Ausrüstung ist vollständig neu, doch scheint der Stoff nicht besonders gut zu sein.
Heute früh hatten wir um 1/2 9 Uhr Feldgottesdienst mit Vereidigung. Der Geistliche (prot.) ließ zuerst ›Großer Gott‹ singen, hielt dann Predigt, besonders die treue Hoffnung des Eides betonend – Mit Vater unser. Schluß. Nun danket all Gott.
Als wir nach langer Fahrt am Mittwoch früh (die Nacht über verbrachten wir im Zuge, der an irgendeiner Stelle hielt) aufwachten, standen wir mitten in einem Schlachtfelde. – Früh um 4 Uhr ist hier schon heller Tag, 8 Uhr abends dunkel. Granatlöcher rechts und links des Bahndammes, so große, wie wenn man einen Baum ausmacht. Granatsplitter, Schrapnellkugeln, zerrissene Feldtelephondrähte, Schützengräben, Laufgräben, zerstörte Häuser, Häuser und Ortschaften. Wir stiegen aus und durchstöberten das fast vollständig zerstörte Possesseren (6.-7. Februar wurde hier gekämpft, auch schon mal im September). Hier ein einsames Soldatengrab, dort wieder, da zwei mit 7 Leuten vom 129er. Man riecht die furchtbare Wirkung der modernen Schlacht überall. Bäume, die als Richtpunkte dienen könnten, wurden abgesägt. So sind ganze Straßenalleen gefällt.«
Die ersten Monate seiner Soldatenzeit verbringt Metten mit Instandsetzungsarbeiten. Von den mörderischen Schlachten sieht er die schrecklichen Spuren. Er selbst muß jedoch nicht in den Kampf. Dennoch versucht er, wieder nach Hause zu kommen. Genügsam wie er ist, klagt er nicht über Verpflegung oder Arbeit. Aber wenn er sich schon fragt, warum überhaupt Krieg geführt wird, so sieht er erst recht nicht ein, warum er selbst daran teilnehmen muß. Er trägt noch keine drei Monate die Uniform, als er der Familie schreibt, wie er zumindest zeitweise wieder heim könnte:
(30. 6. 15) » ... Auf Reklamation könnte ich vielleicht einen 14tägigen Urlaub erhalten. Muß Landwirtschaft und Weinbau betont werden, besonders Bekämpfung der Rebschädlinge und von der Bürgermeisterei beglaubigt, daß es zur Feldarbeit sei, zum Heumachen ... Es ist noch besser, wenn die Bürgermeisterei das Ganze macht, stempelt, etc. – Aktenbogen und Umschlag – und direkt an die Truppe schickt. Aber so schnell wie möglich, es geht immer eine Zeit drauf ...«
Obwohl sich die Mutter sofort um die Angelegenheit kümmert – schon am 10. 7. 1915 schickt Jean eine Karte mit knappem Text:
»Liebe Mutter und Geschwister. Ihr dürft euch keine große Hoffnung machen auf Urlaub, so leicht geht das doch nicht. Bis auf weiteres im Brief. Mit vielen Grüßen Jean.«
Mettens Soldbuch weist aus, daß er erst 1916 vom 30. August bis 12. September Urlaub erhält, um in der heimischen Landwirtschaft zu helfen. Ein zweiter Urlaub wird ihm schließlich an Weihnachten 1917, vom 13. bis 25. Dezember gewährt.
Der Schriftwechsel zwischen Jean und der Familie ist während der Kriegsjahre sehr intensiv – solange Postbeförderung und Zensur dies möglich machen. Aus Nieder-Olm wird Jean mit Lebensmitteln versorgt, die Pakete werden wie die Briefe numeriert, und Jean kann so bestätigen, was tatsächlich ankommt. Typisch für die Kriegszeit daher die Zeilen:
»Nun also alle Sendungen erhalten. Briefe, Karte von Johanni, Paketchen mit Wurst und Namenstagspaketchen.« (30. 6. 15)
Fünf Monate bleibt Jean in Spiergsten, dann geht's weiter Richtung Osten. Seine ausführlichen Briefe dokumentieren nicht nur den täglichen Ablauf. Seine Beobachtungsgabe, seine künstlerische Sicht für die Natur, seine bäuerliche Kenntnis der Kulturlandschaft und sein sensibles Gespür für stimmungsvolle Einzelheiten geben den Briefen fast literarischen Wert.
Jeans Aufenthaltsort wechselt ständig. Sein Truppenteil wird offenbar gefechtsbereit in Reserve gehalten. In direkte Kampfhandlungen greift er nicht ein. Seine Sorge gilt dem Bruder Andreas daheim, der nun auch gemustert wird. Zwar versucht Andreas wegen des landwirtschaftlichen Betriebes der Einberufung zu entgehen, doch gibt ihm Jean kaum Chancen und daher Ratschläge. »Wenn er einrücken muß, woran ich nicht zweifle, so soll sein Hauptaugenmerk sein: gute Stiefel.«
Jeans Überzeugung, daß Andreas einrücken muß, nährt sich aus seinen eigenen Erfahrungen: »Ich glaube, Rußland wird uns noch viel zu schaffen machen. – Wenn man glaubt, daß Rußland hungert, so täuscht man sich auch.« (24. 10. 15)
Jean zweifelt nicht nur am Sinn des Krieges, sondern auch am militärischen Erfolg.
Künstlerisch kann er sich kaum betätigen. Einige Skizzen, ein Holzschnitt, datiert »Rußland 1915«, betitelt »Chaos« – es zeigt ein normales Landschaftsbild. Mehr entsteht in dieser Zeit nicht. Seine Motive wählt Metten wie früher aus der Landschaft, skizziert Gebäude. – All das, was er an Zerstörung, an Mahnendem erlebt, verarbeitet er nicht künstlerisch. So, als weigere er sich, die durch Menschenhand verkommene Welt, in der er jetzt sogar Soldat sein muß, auch in seine Kunst eindringen zu lassen. Obwohl es ihm von seinen handwerklichen Fähigkeiten her ein leichtes wäre, hier anzuklagen, gemäß seiner Weltanschauung, Kunst einzusetzen. Tote, Verwundete, Gefangene, Gräber, zerschossene Dörfer, zerstörte Kirchen nimmt Metten wahr, berichtet darüber nach Hause und leidet darunter. Doch er verarbeitet es nicht künstlerisch.
Anfang Dezember kommt die gute Nachricht. Seine Einheit wird verlegt, wahrscheinlich nach Mainz, wie er ankündigt. Tatsächlich geht es zurück nach Darmstadt zur Ausbildung, als Fahrer vom Sattel und Bock. Er wechselt mehrfach die Einheit, bevor es an die Westfront geht. Als Reiter und Fahrer ist er Meldesoldat, eine Karte vom 28. 11. 16 hat den Absender »Fahrer Metten Brützen 25. Division 18. Armee«.
Von nun an steckt Metten da, »wo die Luft am dicksten ist«. An der Front. Sein Militärpaß liest sich wie ein Kriegstagebuch für die französisch-deutsche Front dieser Zeit:
21. 2.-26. 4. 1916 Schlacht bei Verdun
17. 5.-9. 9. 1916 Kämpfe an der Aisne
13. 9.-1. 10. 1916 Schlacht an der Somme
7. 10. -9. 11. 1916 Kämpfe zwischen Maas und Mosel
21. 11.-26. 11. 1916 Schlacht an der Somme
27. 11.16-10. 2. 1917 Stellungskämpfe an der Somme
Seine Führung wird mit »gut« bezeichnet, Strafen erhält er keine. Der überzeugte Pazifist ist nicht der Mann, durch Ungehorsam oder Befehlsverweigerung seinen Überzeugungen auch auf Kosten des Lebens Ausdruck zu verleihen. Er versieht seinen Dienst, hoffend und betend.
Nur eines hält ihn aufrecht: sein tiefer christlicher Glaube. Er wirft Gott nicht vor, daß Krieg geführt wird. Das hält er für von Menschen verbrochenes Unrecht. Gott und die Religion sind seine Stützen. Das wird in den wenigen Briefen deutlich, die trotz Postsperre durchkommen. Ein Kamerad auf Heimaturlaub hat folgendes Schreiben am 3. Mai 1916 aufgegeben:
» ... Eine elende Postsperre schon wieder seit Ostern. Man könnte glauben, es mit lauter Vaterlandsverrätern zu tun zu haben. – Oder wird was anderes befürchtet? Wie Hohn klingt es mir immer, wenn unsere Zeitungen so manches aus Feindesländern bringen. Nun, es muß halt was gebracht werden. Wird Verdun unser werden? Alle Bierbankpolitiker daheim und auch andere, denen es zu langsam geht, möchte ich nur einmal den Gang zu und von den Schützengräben im Granatfeuer gehen lassen – ich glaube 90 % davon würden nicht nur auf Verdun, sondern auf halb Deutschland verzichten ... Die Nerven sind bei vielen erschüttert ... Es ist alles so furchtbar kriegsmüde. Ich halte die Lage für ziemlich ernst. ... Heute Osterbeichte und Kommunion gehalten. Sonntag hatten wir schon das Glück, heilige Messe zu haben. – Die dritte, seit ich im Westen bin. Gruß Jean.«
An Urlaub ist für ihn nicht zu denken. Im Gegenteil: Zu Hause hat der Bruder Andreas immer mehr Probleme mit der Zurückstellung. Mutter und Schwester leben mit der ständigen Bedrohung, allein die Landwirtschaft bewältigen und zwei im Soldaten im Felde versorgen zu müssen. Jean gibt Anweisungen von der Front und schreibt in den wenigen längeren Briefen trotz Zensur recht offen, wie er die Lage beurteilt (14. 6. 1916): »Kann aus verschiedenen Gründen nicht alles schreiben. Bald gibt es nur noch vorgedruckte Formulare zum ausfüllen ... Zeitungen von Samstag und Dienstag erhalten. Fast all' da draußen ekelt es förmlich an, wenn unsere Zeitungen bei Erfolgen so lobhudeln, auch noch auffordern, die Ständ' zu flaggen. Ich denke mal Ernst und Zurückhaltung sei jetzt doch endlich am Platze.«
Über die wahre Kriegslage ist Jean auch an der Front unterrichtet. Was Kameraden nicht mitteilen, erfährt er aus der Zeitung. Als erfahrener Leser kann Metten die Wahrheit aus der Mischung von Lobhudelei, Durchhalteparolen und Erfolgsmeldungen herausfiltern.
Fast fatalistisch in dieser Zeit ist Jeans Glaube an Gottes Fügung. Dennoch macht sich bei ihm Wut breit. Wut über Menschen, die im großen für den Krieg verantwortlich sind und Menschen, die im kleinen den Krieg mißbrauchen. So erzählt er später, daß er sich hervorragend in Frankreich mit der Zivilbevölkerung verstand, »daß diese Menschen auch Not litten, und daß es auf der anderen Seite auch Drecksäcke gegeben habe, die die Notlage der Bevölkerung ausnutzten – insbesondere der Frauen. Daß einer also 'n Laibchen Brot schmu gemacht hat, ist abgehauen und hat zugesehen, daß er 'ne Französin dafür kriegte«.
Die Briefe aus dem Feld beschreiben die Situation umfassend. Metten zeigt sich als feiner Beobachter. Nicht als blanker Chronist, sondern als denkender, die Beobachtungen verknüpfender und Schlüsse ziehender Mensch. Bezeichnend sind die Daten der Briefe, sie sind an kirchlichen Festtagen wie Allerseelen und Weihnachten 1916 geschrieben. Bis auf ein zweizeiliges Schreiben im Juli 1917 sind sie die letzten Lebenszeichen Jeans für die nächsten elf Monate. Am 10. Februar 1917 wird er zur Fuhrpark-Kolonne 710 versetzt. Und wieder läßt der nüchterne Abriß im Militärpaß ahnen, was er erlebt:
10. 2.-18. 3. 1917 Stellungskämpfe an der Somme
16. 3.-20. 6. 1917 Kämpfe an der Siegfriedfront
21. 6.-19. 10. 1917 Kämpfe in der Siegfried-Stellung
11. 10.-1. 12. 1917 Schlacht in Flandern
8. 12. 1917 Kämpfe in der Siegfried-Stellung
Der Mensch und Künstler leidet. Wenige Skizzen, ein Aquarell sind erhalten. Viel mehr dürfte Jean Metten in dieser Zeit nicht gestaltet haben. Wie kann man sich auch um Kunst kümmern, Erhabenem zum Wohle Gottes nachhängen, wenn rundherum die Welt von Menschen in Scherben gehauen wird? Doch die schrecklichen Erlebnisse können dem tief verwurzelten Glauben nichts anhaben. Der Künstler in ihm wird allerdings in den Grundfesten erschüttert.
Zunächst aber denkt Jean Metten ans Praktische. An die Familie, die nahe Zukunft, das Deutschland nach dem Krieg. Denn die Nachrichten von den Geschehnissen in Berlin gelangen an die Front. Mettens ablehnende Haltung gegen die angeschlagene Regierung wird offenbar. Er hat genügend Informationen, um zu erkennen, daß seine politischen Ansichten und Voraussichten zu Beginn des Krieges richtig waren und daß sein Mißtrauen gegen die eigene Staatsführung berechtigt war.
Der wache Verstand Mettens sieht klar die politischen Notwendigkeiten. Er erkennt auch, warum sie nicht verfolgt werden. Statt internationalem Frieden – alldeutscher Größenwahn, den der kleine Mann im Felde auszubaden hat. Bei aller Klarsicht und aller Deutlichkeit in Äußerungen an die Familie tritt Metten mit seinen Überzeugungen nicht nach außen. Er leidet und duldet.
Erst spät erfährt er aus der Heimat, daß sein Bruder Andreas doch eingezogen wurde. Aus dem Felde gibt er Anweisungen für die Zurückgebliebenen, Schwester und Mutter: »Daß ihr gleich Wirtschaftsschluß gemacht habt, war das Beste ... Halte es für das Beste, die Äcker, die nicht eingesät sind, einfach brachliegen zu lassen. Nur Kartoffeln und Dickworz fürs Kühlein, das ihr behaltet.« (16. 4. 18)
Seine Anmerkungen gelten jedoch nicht nur der Sorge um die Daheimgebliebenen. Erneut mischen sich politische Untertöne ein. Sein Klassenbewußtsein als Bauer, als Mann aus dem Volk dringt ebenso durch, wie politisch-wirtschaftliche Weitsicht, wenn er an das »Danach« denkt:
»Ihr dürft nicht alles in Schuß halten, etwas muß liegen bleiben – sonst geht es ja auch so. Das ist ja der Fehler der Bauernweiber – die Industriellen markieren es besser – stellen einfach still ... Las dieser Tage Inschriften französischer Infanteristen ›a bas la guerre‹ – (nieder mit dem Krieg) – wer nur hat Interesse dran, an Fortsetzung?« (2. 5. 18)
»Legt einmal einiges Papiergeld in guten Büchern an. Hätte gern einige Künstlerbiographien, besonders deutsche Gothiker, so ähnlich wie das von Dürer, das ich habe.« (5. 5. 18)
»Und nur keinen Urlaub für mich einreichen. Denn es sind – zumal jetzt immer noch Urlaubssperre ist – manche Leute seit einem Jahr nicht in Urlaub gewesen, und alles Bauern. Zudem habe ich auch gar keine Lust, etwas zu arbeiten. Es ist ja doch nur alles für eine bestimmte Klasse. Ich meine, wem bald die Augen nicht aufgehen, der sieht nichts oder will nichts sehen – den Soldaten fällt es auf, daß die Standesamtsberichte nicht mehr in den Zeitungen stehen. Sie sagen, man soll nicht wissen, wieviel schon verhungern. Was sind die Soldaten verbittert.« (14. 5. 18)
Bei all dem Elend und der Ahnung von drohendem, noch größerem Unheil wankt Metten in seinem Glauben kein bißchen. Im Gegenteil, er sieht den mangelnden Glauben und die unkorrekte Lebensführung auch der Kleriker als Hauptursachen für den Verfall und Hauptgefahren für die Zukunft:
20. 5. 18 Pfingstsonntag.
»Liebe Mutter und Geschwister. Ohne irgendwelche kirchliche Feier Pfingsten gekommen, wird auch so gehen. Weiß nicht, woran das liegt, daß so wenig für das Religiöse gesorgt wird. Glaubenlos und religionsfeindlich wird die Masse einstens zurückkommen. Ist es Pfingsten, um später ablenken zu können? Dem Haß einen neuen Weg zu zeigen? Die ›tote Hand‹ das Vermögen der Kirche, es wird herhalten müssen, den Staatssäckel zu füllen, die Steuerlast abzuwälzen – dazu wird es überwältigende Mehrheit geben. Ob die Diener der Kirche, die jetzt so sehr im Fahrwasser des Staates schwimmen, sich dadurch ihr Anrecht auf die Futterkrippe des Staates zu sichern glauben? Das wird ihnen übel vermerkt werden.«
Jean Metten wartet wie viele auf das Ende des Krieges. Seine Friedenssehnsucht, die er vom ersten Kriegstage an hatte, paart sich mit wachsender Hoffnungslosigkeit.
Der 20. August 1918 bringt für Metten das Ende seines Daseins an der Front. Mit Ruhr-Verdacht wird er ins Kriegslazarett eingeliefert. Seine Briefe nach Hause lassen ihn unverändert scheinen. Er analysiert das politische Geschehen und teilt der Familie nichts von seinen inneren Zweifeln mit. Wenn er auch Pläne für das Leben nach dem Zusammenbruch macht, Anweisungen gibt, wie Inflation und Wertverlust aufgefangen werden können, wenn er auch Gottes Beistand herbeisehnt, um die Opfer gering zu halten, so erzählt er nicht, was in ihm selbst vorgeht.
Die Kriegsjahre haben ihn erschüttert. Nach allen Erfahrungen ist seine weitere künstlerische Laufbahn erst einmal in Frage gestellt. Die Schönheit der Welt mit Farbe und Pinsel lobpreisen, nachdem man den Zusammenbruch der Welt erlebt hat? Das scheint für ihn vorerst ausgeschlossen.
Aber er belästigt mit seinen privaten Lebenszweifeln die Familie nicht. Nur Kameraden wissen von seiner geplanten Abkehr von der Kunst, seiner vorübergehenden Resignation. Sie schreiben ins Lazarett:
(26. 10. 18)
»Lieber Jean, soeben Deinen verbitterten Brief vom 19. 10. erhalten, vielen Dank. Wünsche, daß es Dir, lieber Kamerad, besser geht und Du bald nach Hause kommst zur vollen Erholung ... Wir sind bald am Ziel, verzweifle nicht – Dir fehlt auch weiter nichts als der Friede. Dann hoffe ich, daß wir uns baldigst wiedersehen, denn Du wirst doch Deinem Metier treu bleiben.«
Jean Metten wird ins Hinterland verlegt, um die Krankheit auszukurieren. In Altdamm/Pommern wird er gepflegt. Doch jetzt hat er zwei Sorgen: die um das künftige Deutschland und die, nach der Genesung noch einmal ins Feld zu müssen und dort Gefahr zu laufen, in den letzten Kriegstagen sein Leben zu verlieren. Briefauszüge:
(20. 10. 18) »Der Zusammenbruch Deutschlands scheint unvermeidlich. Hoffentlich geht es schnell, je schneller, desto besser, da dann ohne große Menschenopfer ... ›Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen‹ – Einzige Weisheit und Wahrheit! Leider sind die armen deutschen Völker die Leidtragenden, wer weiß, ob nicht noch Zustände eintreten, wie sie oft aus Rußland gemeldet werden. Wie werden die um die Regierungspfeife getanzten Bischöfe und Priester dastehen? Wird sich nicht viel Haß gegen sie erheben? Möge uns Gottes Barmherzigkeit gnädig sein.«
(28. 10. 18) »Wird nicht noch ein Gehilfe des Todes kommen? Ich meine die Revolution, die Blutige ... Werden nun auch noch die Kronen auf das Pflaster rollen? Vielleicht würde das zur Entspannung beitragen ... So mußte es kommen. Eine solche Macht- und Gewaltpolitik wie sie bei uns getrieben wurde, mußte abgesägt werden. Aber das arme betörte Volk, wie wird es dies hinnehmen? ... Morgen sollen welche zum Ersatz-Batl. kommen, ob ich dabei bin?«
Er ist nicht dabei. Er bleibt im Lazarett, bis »die Kronen auf das Pflaster rollen«. Am 9. November ist die Revolution in Berlin mit Bekanntgabe des Thronverzichts Wilhelms II. Zwei Tage später folgt der Waffenstillstand. Der Krieg ist aus.
Am 23. November 1918 wird Jean Metten aus der Armee entlassen. Sechs Tage später ist er wieder in Nieder-Olm. Auch sein Bruder Andreas erlebt im Lazarett das Kriegsende.






»Ja« zur Kunst –
Mit dem Rücken zur Welt    


Der Krieg hat bei Jean deutliche Spuren hinterlassen. Die Krankheit ist längst nicht auskuriert. Doch weit bedeutender ist sein seelisches Leiden. 40 Monate im Feld. Die Erinnerungen an sinnlosen Tod, Verderben, Verwüstung, Zerstörung müssen von dem empfindsamen Künstler verarbeitet werden. Kameraden, Altersgenossen aus Nieder-Olm sind gefallen. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind unsicher, die Zukunft ungewiß.
Auch das Verhältnis zur Kirche und zur klerikalen Politik ist zerrüttet. Metten muß sich erst wieder finden. Was ihm dabei hilft, ist die intakte Familie mit der fürsorgenden Mutter und der Schwester. Und vor allem der durch nichts zu erschütternde Glaube. Er hilft Metten auch jetzt, seine Lebensentscheidung zu treffen: Ein endgültiges Ja zur Kunst.
Doch nach allem, was er erlebt hat, geht mit diesem Ja eine andere Entscheidung einher: er bescheidet sich auf den rheinhessischen Lebensraum. Mit seinem Schaffen wird er nur daheim Gottes Schöpfung huldigen. Sollte er je mit dem Gedanken gespielt haben, sich als Künstler draußen in der Welt zu versuchen – spätestens jetzt ist für ihn klar, daß er keine »Karriere« anstrebt. Ärmliches Künstlerdasein in der Fremde, Alltagssorgen um Geld für die Behausung, die Gefahr, künstlerische Kompromisse eingehen zu müssen, um des lieben Broterwerbs willen – das ist nichts für ihn. Selbst wenn er »den Durchbruch« schaffen würde. Jean Metten liegt nichts an lautem Lob. Nach dreieinhalb Jahren im Felde will er seiner Kunst da leben, wo er er selbst sein kann: daheim, in Nieder-Olm.
Seine jäh unterbrochene Ausbildung setzt Metten nun trotz der wirtschaftlichen Not fort. Mutter und Geschwister ermöglichen auch in der Nachkriegszeit das Studium. Er meldet sich am 30. Oktober 1919 an die Leipziger Akademie zurück. »Zeichnen«, »Entwerfen« und »Radieren« stehen nur noch auf seinem Lehrplan. Und Professor Kolb ist der Mann, für dessen Klasse er sich als Vollschüler einträgt. Die Radiertechniken will er perfekt erlernen und weiterentwickeln.
Erneut werden seine Noten mit »1« für Fleiß und Betragen und »2« für Leistungen ausgegeben. Doch Metten betrachtet sich längst nicht mehr als gewöhnlichen Schüler. Dazu ist er mit 35 Jahren auch viel zu alt. Im Anmeldeformular gibt er als Beruf »Graphiker« an. Ein Berufsziel nennt er nicht mehr. Er ist Graphiker und bildet sich fort. Das ist sein Selbstverständnis.
Im Juli 1920 geht er von der Schule ab. Ein knappes Jahr später, im April 1921, meldet er sich erneut für Professor Kolbs Radierklasse an. Hier bleibt er bis Juli 1921. Mit der üblichen Benotung: Betragen:1, Fleiß:1, Leistungen 2.
Beide Male wohnt er in der Plagwitzerstraße 5, auf einem Flur mit einem Kontoristen, einem Malermeister und einem Preßvergolder. (Interessante Zufälle bringen seine beiden Leipziger Adressen mit sich: die Moritzstraße, in der er vor dem Ersten Weltkrieg wohnte, gibt es nicht mehr. Heute ist in Leipzig ein Neubaugebiet darüber errichtet. Doch die Straße, die ungefähr auf der gleichen Trasse verläuft, heißt »Manetstraße«. Auch die Plagwitzerstraße – in Plagwitz wohnte einst Max Klinger – hat bei der Umbenennung nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Politiker- oder Kämpfernamen erhalten. Sie heißt heute »Käthe-Kollwitz-Straße«. Beide Häuser, in denen Metten lebte, stehen jedoch nicht mehr.)
Als Jean Metten Leipzig im Juli 1921 verläßt, geht er mit dem Willen, dereinst in diese Stadt zurückzukehren. Denn er verbindet mit ihr keine ärmlichen Studentenjahre, sondern die entscheidende Zeit seiner künstlerischen Entwicklung. Doch wird er Leipzig nie wiedersehen.
37 Jahre ist Jean Metten alt, als er endgültig nach Nieder-Olm zurückkehrt. Die anfänglichen Widerstände im Elternhaus und der Erste Weltkrieg haben ihn 13 Jahre seines künstlerischen Lebens gekostet. Doch sie haben auch den Menschen geformt.
Daheim leben die alte Mutter, die 42jährige Schwester und der Bruder, der nun auch schon 33 Jahre zählt. Lange ist es her, seit Andreas den Hof übernahm, um dem Bruder die künstlerische Laufbahn zu ermöglichen. Jetzt hofft er, daß sich die Opfer bezahlt machen. Im Elternhaus hat Jean Metten alles, was er braucht. Die materielle Sicherheit, die bei seinen bescheidenen Ansprüchen schnell hergestellt ist. Die geistige Auseinandersetzung, für die der Bruder Garant ist – und: Ruhe, um zu schaffen.
Die Umwälzungen in der zeitgenössischen Kunst nimmt er wahr, die unsicheren politischen Verhältnisse mit ihren Ungerechtigkeiten und Fehlern beschäftigen ihn geistig. Doch seine Kunst wird davon nicht berührt.
Der radikale Moralist und unbedingte katholische Christ, der politische Kopf, auf der Höhe seiner Zeit, er benutzt seine Kunst nicht als Sprachrohr, wie es manch andere taten. Nicht einmal leise Sozialkritik findet sich in seinen Werken. Er sucht keine anklagenden Motive. Er abstrahiert nichts. Er geht seinen Weg als Naturalist mit impressionistischem Einschlag, und vor allem geht er seinen Weg als Christ.
Ein Kritiker hat einmal versucht, in Motivwahl und Technik Einflüsse von Mettens Lehrern auf das Werk festzumachen, doch er wurde nicht fündig. Von ihnen hat Metten handwerkliches Können und farbliches Sehen mitgenommen. Doch seine Hand wird von seinen Augen geführt. Und die lobpreisen Gottes Schöpfung.
So zeigt seine Arbeitsmappe zahlreiche kleine, fertig ausgemalte Aquarelle mit religiösen, biblischen Motiven. Sie wirken, als gehe es darum, Altarbilder zu entwerfen. Er zeichnet Krippen, Marienfiguren.
Ausgedehnte Spaziergänge führen ihn durch ganz Rheinhessen. Hier bringt er Skizzen von der Udenheimer Bergkirche mit, da entstehen frische, duftige Aquarelle von Framersheimer Ortsansichten. Metten ist unterwegs und nimmt die Region »Rheinhessen« mit ihren Pflanzen und Landschaften in sich auf.
Später schreibt ein Kritiker: »Jean Metten arbeitete mit dem Rücken nach Mainz.« Das trifft es nicht ganz: er arbeitet mit dem Rücken zur Welt.
Jean ist bescheiden, kein großer Kunsttheoretiker. Er kommt aus dem einfachen Bauernstand und stellt seine Person nie in den Mittelpunkt. Seine Liebe gehört den kleinen Dingen, mit ihnen gestaltet er sein Werk. Versteckte Heckenblumen, Wiesen, Verborgenes malt er, um heimliche Schönheit zu preisen. Er erlebt intensiv das Umfeld des Dorfes. Und aus seinem tiefreligiösen Blickwinkel verarbeitet er es in seiner Kunst. Er sieht mehr als andere. Und, er sieht anders.
Die rheinhessische Landschaft wirkt mit ihren Farben blaß und gediegen. Sein späterer Freund Richard Knies schreibt über einen Spaziergang mit Jean Metten durch Rheinhessen:
»Lange Wochen hindurch kann selbst an sonnigen Tagen ein grautrüber Dunst, den der Bauer Höhrauch oder Heerauch nennt ... stumpf über dem Lande liegen. Dann sind alle Fernen ›zu‹, alle Linien verschwommen, und gerade in der weiträumigen, meist weichen, fast weiblich zu nennenden rheinhessischen Landschaft, die in ihrer Gliederung so wenig das bietet, was die Maler ein ›dankbares Motiv‹ nennen, braucht der Künstler, namentlich, wenn er große Landschaft gestalten will, Ferne und Linien. Freilich, wenn das Licht, meist kurz vor einer Reihe sich folgender Regentage oder gleich danach, einmal Farben in die Landschaft streut, dann leuchtet's darauf zart und vielfach wie aus einer Muschelschale, und doch scheinen die Farben auch wieder wie aus dem Boden selbst zu kommen.«
Das einzige Thema, dem sich Metten außer Blumen und Landschaften verstärkt widmet, ist das Portrait. Eine Reihe recht guter Bildnisse entstehen. Eines zeigt Professor Heinz Müller als Knaben. Er beschreibt Mettens Ringen um das Bild:
»Er hat gesagt, ich portraitiere dich. Ich hab mich hingesetzt, Staffelei mit Leinwand stand da. Tage davor hatte er eine kleine Öl-Skizze gemacht. Er fing an: Kohle in großem Schwung, ein gut gezeichnetes Portrait. Dann hat er die Palette genommen, Farbe draufgesetzt, angefangen zu mischen – das ging noch ganz flott. Auf einmal merkte ich: mmmh, er guckt mich an – herüber – mischte wieder Farbe – wieder drauf – zurück – wieder – er wurde nervöser, er wurde gespannter, das Gesicht wurde auf einmal ganz anders, die Züge wurden hart, er geht mit dem Kopf vor – und wieder zurück. Farben gemischt, geguckt, hingesetzt, wieder gemischt, geguckt, hingesetzt, immer verglichen mit mir. Er wurde erregter, er wurde immer intensiver, ich glaub', er hat auch angefangen zu schwitzen, ein Kampf war das, das herauszukriegen. Bis er auf einmal den Kopf geschüttelt hat, Palette hingelegt, sich hingesetzt auf einen Stuhl – in einiger Entfernung – und da hat er dann mich betrachtet. Ich bin ruhig sitzengeblieben. Und auf einmal springt er auf, nimmt ein Spachtelmesser und kratzt gewisse Stellen wieder aus dem Bild weg. Und dann sagt er: ›Das nächste Mal machen wir weiter.‹
Der Mann war bis ins letzte gespannt, die Züge wurden stark, er hat direkt vibriert. Es wurde nichts gesprochen, keinen Ton. Der war so bei der Sache, daß jedes Wort störend gewirkt hätte. Diese Selbstkritik, diesen Kampf um die Gestaltung von einem Werk, das hat er immer gehabt.«
Metten kämpft mit sich selbst. Mit anderen Künstlern diskutiert er nicht über sein Werk. In Mainz, bei der »Vereinigung bildender Künstler« ist er bekannt. Sein Kollege, Ferdinand Preusser, schildert den Nieder-Olmer:
»Er war nicht groß. Er war dunkelhaarig. Es hätte ihn keiner für 'nen Künstler gehalten. Er war etwas bäuerlich in der Kleidung. Er liebte kein Tam-Tam. Schüchtern war er nicht, er konnte sogar witzig sein. Er hatte eine merkwürdige Art, einen anzugucken. Einen prüfenden Blick, und – nicht mit jedem! – ein gewisses Einverständnis.
Wenn Ausstellungen im Haus am Dom stattfanden, war Metten beteiligt. Sein Werk kam beim Publikum gut an, denn er war ja kein Experimenteur. Er urteilte vorsichtig im Kollegenkreise und wollte jeden nach seiner Façon selig werden lassen. Wenn ihm die Arbeiten eines Kollegen nicht gefielen, so ließ er dies dessen Sache sein. Wenn ihm etwas gefallen hat, so war er offen und ehrlich. Doch er hat nie viele Worte gemacht.
Kontakt zu seinen Mainzer Kollegen hat er nie gesucht. Wenn wir die Ausstellung gemeinsam aufgehängt hatten, es hatte alles geklappt und wir wollten hinterher gemeinsam ein Bier trinken gehen – da war er nicht zu haben. Er hatte keine Zeit. Metten gab immer nur Gastspiele.«
Als Anfang der 20er Jahre eine Kunstgewerkschaft gegründet werden soll, lädt Ferdinand Preusser auch Metten zur Versammlung ein:
»Ich sprach ihn kurz in einer Ecke. Es ist bezeichnend, daß ich mit ihm – im Gegensatz zu den Kollegen – nicht per ›du‹ war. Ich fragte: ›Herr Metten, was halten Sie von der ganzen Sache?‹ Er: ›Herr Preusser, wissen Sie was, ich halte nicht viel davon. Aber ich will mir kein Urteil erlauben. In einer Versammlung können Sie ja abstimmen lassen, wieviel Kollegen dafür sind. Und wenn die anderen dafür sind, dann bin ich auch dafür. Ich schließe mich den Kollegen an.‹ – Unnahbar war Metten nicht. Er war aufgeschlossen. Kontakt bekam man. Er war ein bißchen Skeptiker. Sehr vorsichtig. Vielleicht aus Erfahrung. Er war skeptisch nicht nur in der Kunst. Allgemein, auch in politischer Hinsicht. Mit seinem Leben aber stand er in Einklang – er machte einen harmonischen Eindruck.«
Die Harmonie ist echt. Jean Metten ist mit seiner Welt zufrieden. Anspruchslos lebt er mit den Geschwistern und dient seiner Kunst. Bruder Andreas sieht das etwas anders. Er, der dem Älteren in rührender Fürsorge hilft, sogar manche Rahmen für die Leinwände selbst zimmert, er möchte Erfolge sehen.
Die prächtigen Landschaften, die ausdrucksvollen Portraits, die wunderbaren Blumenbilder zeigen Andreas Metten, daß er zu Recht in den Bruder investiert hat. Doch dieser macht keine Anstalten, nun die Kunstwelt zu erobern. Statt in die Offensive zu gehen, Kontakte zu knüpfen, große Ausstellungen zu beschicken, bleibt Jean zu Hause, packt mit im Felde an, arbeitet im Weinberg.
Nicht nur in seinen häuslichen Ansprüchen ist er bescheiden. Er hat nicht die Ambition, berühmt zu werden. Lob ist berechtigt und erfüllt ihn mit stillem Stolz. Doch Jean Metten ist nicht der Mann, sich auf dem lebendigen Kunstmarkt durchzusetzen.
Das Haus Metten, die »Wirtschaft zur Schönen Aussicht«, wird allerdings sonntäglicher Treffpunkt von Freunden: Künstler, Pfarrer, Literaten, Intellektuelle: Maria Ziegler, Heinrich Seck-Carton, Alfred Mumbächer sind Künstler, die im Haus verkehren.
Herausragend ist die Beziehung der Metten-Brüder zu Richard Knies. In Offstein bei Worms geboren, wollte Knies ursprünglich Lehrer werden, doch ergreift er dann den Beruf des Geometers. Nebenher schreibt er Gedichte und Novellen. Nach dem Weltkrieg, im Dezember 1918, gründet Knies mit Freunden den Matthias-Grünewald-Verlag in Mainz. Das Unternehmen schreibt sich »die sittlich-religiöse und geistig-kulturelle Erneuerung aus katholischem Glaubensgefühl und der Kulturmacht der Kirche« auf sein Panier und entwickelt sich so schnell, daß Knies die Leitung vollberuflich übernimmt. Er fühlt und lebt ebenso tief religiös wie Jean Metten.
Wie sich die beiden Anfang der 20er Jahre kennenlernen, läßt sich nicht mehr ermitteln. Doch der kulturell interessierte und engagierte Knies wundert sich später darüber, daß Metten ihm lange Zeit kein Begriff war:
»Obwohl Mainz und Nieder-Olm gar nicht weit, sondern gleichsam nur einen modernen Hasensprung auseinanderliegen, hatte ich lange nichts gewußt von Maler Metten.«
Knies animiert den Maler, das Bändchen »Die drei gerechten Kammacher« von Gottfried Keller für den »Grünewald-Verlag« zu illustrieren. In einer Auflage von 4.000 Stück erscheint der Band 1923 in der Reihe »Gastmahl der Erzähler«. Acht Text-Zeichnungen sowie Einband und Vorsatz werden von Metten gestaltet.
Das Büchlein wird kein Verkaufsschlager, was Metten nicht weiter stört. Aber er ist mit der Reproduktion des Vorsatzes nicht zufrieden. Unter seinen erhaltenen Entwurf schreibt er: »Die Erstfassung des Entwurfs.« Und unter dem Druck vermerkt er verärgert: » ... und das, was der Verlag daraus gemacht hat.«
Scheinbar hingeworfene Personenfiguren hatte er schachbrettartig angeordnet. Dazwischen einen flüchtig hingewischten grün-blauen Pinselstrich. Diese Zwischenfelder waren vom Verlag im Vollton exakt ausgemalt – und damit totgemalt – worden. Das ärgert Jean. Dies ist vielleicht der Grund dafür, daß Metten nie wieder ein Buch gestaltet. Die »Kammacher« bleiben das erste und einzige von ihm illustrierte Werk. Der Freundschaft mit Knies tut das freilich keinen Abbruch.
Wie bei so vielen Freunden, die durch den Künstler Jean ins Haus kommen, profitiert der Land- und Schankwirt Andreas Metten von den Kontakten. Oft als bevorzugter Gesprächspartner der Intellektuellen aus der Stadt hat der jüngere Bruder den geistigen Austausch, den er braucht. So erntet er wenigstens ideell von seinem großen Engagement um den älteren Bruder.
Richard Knies widmet in einem Aufsatz über den Maler auch dem Bruder Andreas eine Passage:
»Es ist schön sitzen im Mettenschen Atelier, wenn man die großstädtisch ermüdeten Nerven ein wenig in ländlicher Ruhe baden will, und gut sitzen ist's auch, weil nämlich Mettens Bruder auf einem anderen, aber auch nicht zu verachtenden Gebiet ein Künstler ist: Bruder Metten, wie wir ihn im Unterschied von Maler Metten kurz nennen, wenn er freilich auch keinem Orden, als dem der gütigen Menschen angehört, Bruder Metten keltert und pflegt zu seinem Unterhalt und zum allgemeinen Wohl einen Wein, der sich Gott sei Dank nicht gewaschen hat ...«
Vor allem die gemeinsame religiöse Basis begründet die Freundschaft der Metten-Brüder mit Richard Knies. Später (1931) wird Heinz Müller-Olm eine Madonnen-Figur für die Wirtschaft schaffen. Sie wird mit einem Spruch von Richard Knies versehen, der davon zahlreiche Varianten vorlegt. Andreas – »Bruder« – Metten sucht die Worte aus: »Maria mit dem Kinde Dein, beschenk dies Haus mit gutem Wein, laß Wirt und Gäst zum Himmel ein.«
Die Schaffenszeit zu Anfang der 20er Jahre lassen Mettens Werk erblühen. Ölgemälde, Aquarelle, Federzeichnungen; Metten ist produktiv – und verkauft. Zwar nicht in Massen, aber die alljährlichen Mainzer Ausstellungen sind jeweils von ihm beschickt. Museen und Privatleute kaufen. Metten hat sein Auskommen. Mehr will er nicht.
Thematisch ändert sich indes nichts. Er huldigt der rheinhessischen Landschaft, den Blumen. Einige wenige Tierbilder entstehen, ebenso Portraits.
Ein erster Ausbruch aus dieser gleichförmig zufriedenen Phase erfolgt 1925. Der Mainzer Dom bietet ihm die Motive zu einem Radierungs-Zyklus: der »Dom-Mappe«.
Jean Metten kennt den Küster und läßt sich im Zeitraum von zwei Jahren mittags im Dom einschließen, damit er in Ruhe arbeiten kann. Nach vielen Studien zeichnet er schließlich peinlich genau nach der Wirklichkeit.
Heinz Müller berichtet: »Ich war öfter mit ihm im Dom. Für mich war das 'ne komische Angelegenheit. Ich hab' da nicht gezeichnet. Der dunkle Dom und dann das Gefühl, eingeschlossen zu sein ... – Er war froh, er hat geschafft. Er hat nicht viel gesprochen, ich wollt' ihn auch nicht stören.«
Die fertige Mappe beinhaltet 18 Blätter – der erste Zyklus im Schaffen des Jean Metten entsteht unspektakulär und ohne Auftraggeber. Auf Kommerz ist er wahrlich nicht eingestellt.
In seinem Heimatort ist kaum bekannt, was sich da im Hause Metten tut. Man weiß allenfalls, daß da einer »studiert ist«, gar in Leipzig war. Man sieht in Metten den bescheidenen, gutmütigen und klugen Menschen, der sich vielleicht ein wenig anders bewegt als andere und sein Haar auch etwas länger im Nacken trägt.
»Mer hot em doch oogemerkt, dass was dehinner iss. – E kloo bissje Kinstler hot mer gesehe.« So wird er im Nachhinein von Leuten geschildert, die ihn über Jahrzehnte unverändert als den »Metten-Jean« kannten. »Er war sehr ruhig, bedächtig, freundlich, zurückhaltend, zaghaft in seiner Art, nicht mit Energie losmarschierend.« »Er ist etwas getaucht gegangen. Er war ›der Maler‹, aber nicht als Boheme-Typ. Sondern als akzeptierter, eben etwas anders gearteter Bauer.«
Die Nieder-Olmer sehen ihn selten, wenn er durch die Gemarkung streicht, um Motive zu suchen. Dem hart arbeitenden Landvolk ist das auch egal.
Nur in der engsten Nachbarschaft weiß man darum, daß aus Jean ein Maler geworden ist. Er gilt als hilfsbereiter, netter guter Geist. Daß die Nachbarn seine Kunst nicht einschätzen können, kümmert ihn nicht. Im Gegenteil, er reagiert auf Anliegen, die ein Künstler mit gutem Recht als Zumutungen auffassen dürfte:
An der Wegkreuzung steht ein hölzerner Wegweiser, der wahrscheinlich von einem unachtsamen Bauer abgebrochen worden ist. Jean wird vom Nachbarn aus der Mühle gebeten, dies nachzuzeichnen, damit er der Regierung klar machen könne, daß da ein neuer Wegweiser gebraucht wird. Denn in der Hubertus-Mühle und der Wirtschaft zur Schönen Aussicht hatten Reisende immer wieder nachgefragt, wo es denn lang gehe. Tatsächlich hat die Eingabe Erfolg.
Die Nachbarn Hubertus, die Stenners, das sind Freunde, die auch auf einen Plausch in die Wirtschaft kommen. Einige von ihnen malt Jean Metten, manche skizziert er kurz, um Radierungen zu fertigen. Weil er weiß, daß die Freunde seine Kunst nicht einschätzen, sie unter normalen Umständen auch nicht kaufen können, schenkt er hier ein Bild zur Hochzeit, da eine Radierung für ein Kommunionkind, dort eine zur Verlobung. Der Maler ist freigiebig.
Er greift sogar zum Pinsel, als die Nachbarin Anna Stenner bittet, er möge doch eine wunderbare Glyphie malen, die sie so erfreut. »Wir hatten ein Bild in einem Rahmen, da war eine Heidelandschaft. Die hatte ein Ingenieur mal von einer Postkarte abgemalt. Ich als Nicht-Kenner hab' gesehen, daß es abgemalt war. Aber trotzdem: Es war schön. Und der Onkel hat gesagt: ›Ach Gott, das hat einer abgemalt. Aber der Rahmen, der ist wunderbar, der ist echt.‹ Und da hab' ich gesagt: ›Ei mal doch meine Glyphie.‹ Da ist er hergegangen und hat sie gemalt. Er kam tagelang. Da hab' ich ihn gefragt: ›Was kriegst Du dafür?‹ Da hat er gesagt: ›Das kannst Du gar nicht bezahlen.‹ Da wollte ihm der Schorsch was geben, das hat er nicht genommen. Er sagte, es wäre ein Andenken an ihn. Man hat nix kaufen können.«
Auf seine ausgedehnten Spaziergänge nimmt der Maler nur wenige Menschen mit. Heinz Müller, den er anleitet: »Theorie, Farblehre oder sowas, das hat er nie gemacht. Wenn ich 'ne Skizze gemacht hatte, hat er gesagt: ›Das ist verkehrt‹ und ›du mußt immer beobachten, beobachten, immer die Natur anschauen.«
Ein anderer ist selten sein Weggefährte durch die Fluren, dafür aber ein um so beliebterer Gesprächspartner. Bruder Stephan, ein Klosterbruder aus Wien, gebürtiger Nieder-Olmer, mit dem bürgerlichen Namen Anton Sieben. Wenn der Geistliche in Nieder-Olm bei seiner Schwester wohnt, sucht er das Zusammensein mit Jean Metten. Der geduckt gehende Metten und der wesentlich größere Bruder Stephan durchwandern philosophierend, gestikulierend und zeitvergessend Rheinhessen. Und wenn der Bruder vom Spaziergang kommt, stellt er fest: »Das war heute wieder ein Genuß für mich.«
Metten verkehrt deshalb auch bei Verwandten des Geistlichen im Hause Horn, fertigt dort mit einer Küchenszene, die als getreue bäuerliche Milieuschilderung gelten darf, eine glänzende Radierung.
Eine Tochter des Hauses Horn, Elisabeth Meuser, erzählt, wie Metten sich ungezwungen mit ihr als junges Mädchen befaßt. Für ihn gibt es keine Distanz vom Erwachsenen zum Jugendlichen. Im Gegenteil: Metten erkennt die guten Anlagen des Mädchens und bringt ihr das Schachspiel bei. Schach ist zu dieser Zeit in Nieder-Olm ein geradezu exotisches Spiel. Hier spielt man höchstens Skat. In der Wirtschaft »Zur Schönen Aussicht« hilft Jean Metten nicht ungern als vierter Mann aus. Aus dem Skatspiel ist denn auch die einzige verbürgte Situation entstanden, die den ruhigen gleichmäßigen eher zurücksteckenden Jean die Contenance verlieren läßt. Ein Mitspieler muß mit einer unmöglichen Karte den sicheren Sieg verschenkt haben. Jean ist wütend und läßt seinem Unmut spontan freien Lauf; ein völlig untypischer Gefühlsausbruch.
In der Wirtschaft, in der es Handkäse mit Musik zum Wein gibt, ist Metten ansonsten kaum anzutreffen. Eine Ausnahme macht er, wenn Freunde kommen. Über Kunst wird unter den Künstlern freilich kaum diskutiert; eher über Wissenschaft und Religion, zumal der Kreis aus religiösen Menschen besteht. Natürlich geht es auch um Politik.
Da machen sich Unterschiede zwischen Andreas, dem Kunstförderer, und Jean fest. Jean liest Zeitungen, ist immer auf der Höhe der Zeit. Andreas liest Bücher. Jean liebt keinen Rummel, Andreas dagegen ist stolz darauf, eine Elisabeth Langgässer im Hause bewirten zu dürfen.
Das Verhältnis der Brüder zueinander kann mit dem der Gebrüder van Gogh verglichen werden. Dabei fördert Andreas den Freundeskreis nicht nur dem Bruder zuliebe: hier entsteht das geistige Niveau, auf dem er verkehren will. Denn Andreas macht zwar nicht in Worten, aber doch durch seine Haltung Unterschiede zwischen dem einfachen Bauern und der belesenen Schriftstellerin. Für Jean dagegen sind sie im Umgang auch gefühlsmäßig alle gleich. Er nimmt die Menschen, wie sie kommen, wenn sie nur nicht falsch sind. Dann wendet er sich ab.
Ihre Schwester Apollonia beziehen die Brüder kaum in die geistige Welt ein – sie wirkt als die gute Seele, die Frau im Hause.






Ein »Nein«, das erleichtert –
Jean Metten und die Frauen    


Das Thema »Frauen« ist für die Metten-Brüder ein eigenes. Jean Metten sieht gerne schöne Frauen. Sind doch viele seiner Portraits in den 20ern Frauenbildnisse. Und es wird erzählt, er habe in seiner Leipziger Zeit eine schöne Studentin kennengelernt, die ihm wohl gefallen habe. Tatsächlich gibt es Zeichnungen von einer jungen Frau, die offenbar kein Modell der Akademie war, auf denen sogar der Name »Gisela« vermerkt ist. Doch mehr weiß man nicht.
Der zögernde, zurückhaltende Jean Metten hätte bei einer Heirat Verantwortung auf sich nehmen müssen. Eine Frau, womöglich Kinder, das hätte ihn genötigt, regelmäßig zu verdienen. Er hätte seine Kunst zugunsten eines »Berufes« aufgeben – oder seine Berufung zum Geschäft machen müssen. Beides ist für ihn kaum akzeptabel.
Dennoch: Es gibt eine Frau, für die Jean Metten Verantwortung auf sich genommen hätte. – Das Verhältnis zu umschreiben, fällt schwer. Der tief religiöse Jean sieht in einer Frau etwas absolut Hochstehendes, fast Unantastbares. Eine Verkörperung der Muttergottes vielleicht gar. Und so ist es die ebenso religiöse, feinfühlige Elisabeth Seeger, Schwester eines Geistlichen, für die Metten mehr als nur Freundschaft empfindet. Man könnte formulieren: »Er macht ihr einen Antrag, und sie lehnt ab, darauf bleibt er ledig.« Doch so einfach geht das nicht. Die Beziehung muß in einer absolut reinen, zartfühlenden und zurückhaltenden Art gesehen werden. Metten ist nicht der Mann, forsch um die Frau zu werben. Irgendwann läßt er – die Verneinung seines Ansinnens fast schon voraussetzend – die erkorene Dame wissen, daß er sich ein Leben gemeinsam mit ihr vorstellen kann. Das ist kein konkreter Antrag, kein zielstrebiges Werben, sondern ein zurückhaltendes Erkennenlassen. Ähnlich sanft muß das »Nein« zu verstehen gegeben worden sein. Es ist dies keine beidseitige Liebesaffaire mit schlechtem Ende. Es ist ein aus dem platonischen Rahmen sich ganz zart herauslösendes Aufmerksammachen, das, führt es nicht zu totalem Entgegenkommen, nicht weiter betrieben wird.
Und dieses Entgegenkommen bleibt aus. Elisabeth Seeger bleibt wie Metten ein Leben lang partnerlos.
Wenn man das absolut feinfühlige und hochstehende Empfinden Mettens berücksichtigt, sich jedoch auch seine regelrechte Angst vor Verantwortung vergegenwärtigt, so kann es sein, daß der ablehnende Bescheid Metten im tiefsten Inneren sogar gelegener kommt als ein »Ja« mit allen Konsequenzen. Und so bleibt er ein charmanter, gut plaudernder, liebenswürdiger, kluger Junggeselle. Denn natürlich bekommen Außenstehende so gut wie nichts von der Sache mit.
Die Metten-Geschwister gelten als verknöcherte Junggesellen. Und so ist es für den ganzen Ort eine Riesen-Überraschung, als Andreas Metten 1927 Apollonia Rögner heiratet: »Die müssen gefreit worden sein.«
Gleichwie: Die Hochzeit ändert den routinierten Tagesablauf mit einem Schlag. Plötzlich ist eine Frau im Haus, mit der sich die Geschwister Jean und Apollonia erst arrangieren müssen. Nicht von ungefähr fällt Jeans erste Auslandsreise ins Jahr 1927. Er folgt einer Einladung von Richard Knies nach Locarno. Dort entstehen einige duftige Aquarelle – doch der Italien-Aufenthalt hat keine großen Konsequenzen. Künstlerisch wie menschlich zieht es Metten zurück nach Rheinhessen, und so leben die Geschwister jetzt eben im Quartett.
Doch für Andreas ändert sich einiges. Er muß nun auch eine Frau und bald darauf Kinder ernähren. Er ist noch mehr als ohnehin auf einen geregelten Unterhalt angewiesen.
Für Jean kann dies zunächst materiell keine Probleme bringen. Dazu ist er zu anspruchslos. Bei Ausstellungen in Mainz – im ehemaligen Polizeipräsidium oder in der Stadthalle – kommt er gut an. Mit Pferdebildern und Portraits – so »Die schöne Mainzerin« – erlangt er gute Kritiken. Tout de Mayence ist zu solchen Gelegenheiten auf den Beinen, katholische und sozial-demokratische Zeitungen loben Mettens Werk. Das nimmt er gelassen als Bestätigung seines Weges.
Daß er verkauft, das weisen Quittungen aus. Allein Mainzer Museen kaufen von 1927 bis 1929 für rund 1.000 Mark Bilder. In Öl (220-280 Mark pro Bild), Federzeichnungen (55-100 Mark) oder Radierungen
(8-10 Mark).
Das reicht, mehr hat er nicht nötig. Er ist kein Hungerkünstler, sondern eben nur bescheiden. Und so wird seine Erscheinung im Heimatort mißverstanden: »Er ist immer so anders dahergekommen, so altmodisch, wie wenn er das Geld nicht über Nacht im Haus hätte. Die Mettens waren nicht gut situiert – man hat immer gesagt: arme Künstler. Betracht doch's Mettense Jean, der kann nicht leben und nicht sterben. Er hat so verzottelt ausgesehen, als hätt er's Geld nicht, um die Haare schneiden zu lassen.«
Seine unauffällige Erscheinung ist gewollt. Wenn er sich neue Kleidung machen lassen muß, dann ist Jean Metten in seiner Wahl bestimmt: Der Schneider Hans Lieb: »Er hat nicht so viel Wert auf Kleidung gelegt. Er war immer so gediegen angezogen. Zwei oder drei Hosen hab' ich ihm gemacht. Modern wollte er nicht, da war er viel zu gediegen für. Er hat immer einen anständigen Stoff genommen, immer was dunkles. Er hat zu den Jacken, die er noch hatte, die Hosen bestellt. Er hat nie was genommen, was auffällig war. Das hätte er abgelehnt.«
Gediegen, zurückhaltend, unauffällig. Das ist Jean Metten, aber nur zum Teil. Er weiß wohl, wie man sich in der »großen Welt« bewegt. Und wenn er auch meist als bescheidener Mensch auftritt: Bei besonderen Gelegenheiten – so zu Hochzeiten – stellt er sich im Anzug und Zylinder vor. Und im Sommer arbeitet er gerne in einem gelblichen Malerkittel, der gebügelt und gestärkt sein muß.
Finanziell geht es ihm recht gut. Geld ist im Hause Metten immer da – Geld, das die Geschwister getrennt verwalten. Andreas schafft sich neue Felder an, steckt wie Jean und die Schwester Apollonia mehrere tausend Goldmark in den Verlag des Freundes Richard Knies und verliert sie, als der Verlag ins Schlingern kommt.
Knies ist eher ein kühner Verleger, denn ein kühler Kalkulator. Den Profit seiner verlegerischen Aktivitäten erlangen die Mettens nur ideell. Als Erneuerer der Theologie, angelehnt an christlich-sozialen Idealen, politisch verkörpert durch die Zentrumspartei, ist Knies, sind die Mettens autodidaktische Laientheologen. Im Matthias-Grünewald-Verlag werden Bücher des Theologen und späteren Mainzer Pfarrers Romano Guardini veröffentlicht und im Hause Metten diskutiert.
Knies und manche Künstler – so der blinde Bildhauer Jakob Schmitt, Maria Ziegler, Heinrich Seck-Carton, Alfred Mumbächer – kommen nach Nieder-Olm zu den Mettens. Die Mettens ihrerseits sind in Mainz – sieht man von den Pflichtübungen bei Ausstellungen der Künstler-Vereinigung ab – nicht zu sehen. Der Kunstkritiker Wilhelm Michel, der Notar Arens, das sind weitere Freunde des Hauses, die an Sonntagen aus der ländlichen Wirtschaft einen theologisch-philosophischen Debattierklub machen.
Im Haus wird es jetzt eng. Sechs Kinder (Apollonia, Johannes, Barbara, Elisabeth, Maria und Andreas) werden von 1928 bis 1935 geboren – die Ruhe für Jeans künstlerisches Wirken ist dahin. Doch auch hier ist Andreas der Macher. Er ermöglicht den Kauf eines Hauses in der Pfarrgasse und richtet darin ein Atelier ein.
Da sitzt dann Jean Metten mit seinen Freunden – im Winter um einen Knallofen – und diskutiert.
Nach außen hin ist Metten ein stiller freundlicher Zeitgenosse. Er legt sich mit niemandem an – selbst wenn ihm einiges gegen den Strich geht. Denn so ruhig er ist, er ist politisch auf der Höhe der Zeit – und aufrichtig. So greift er nicht ein, wenn zwei alte Bauern in der Hubertusmühle Korn abladen und in freudiger Erregung von Wundertaten und Heldentum während des Krieges palavern. Aber den kleinen Jungen, der nebendran steht und das alles hört, den nimmt er später zur Seite: »Tu das all nicht glauben. Die schneiden alle auf. Der eine war Sanitäter – da kann man daheim groß erzählen. Aber vorne, an der Front, da haben sie alle Schiß gehabt. Alle miteinander.«
Dem belesenen Halbwüchsigen gibt er auch Bücher-Tips. »Im Westen nichts Neues«, oder Romane von Upton Sinclair – also auch Arbeiterliteratur. Ob Metten die Bücher selbst liest oder nur auf Kritiken in einschlägigen Zeitungen hin empfiehlt, ist nicht klar. Immerhin: Namen und Zusammenhänge sind ihm geläufig.
Im Dezember 1929 engagieren sich die Mettens erstmals bei einem lokalen Anliegen. Die Brüder weiten ihren kulturellen Mikrokosmos auf einige Nieder-Olmer aus, die in der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht« den »Holzamer-Bund« gründen.
Wilhelm Holzamer, 1870 in Nieder-Olm geboren und 1907 in Berlin gestorben, ist im dörflichen Nieder-Olm ein Verfemter. Einer, der Frau und sieben Kinder im Stich läßt, um mit einem jungen Ding durchzubrennen, nach Paris und Berlin zu ziehen, der ist unten durch. Daß hier ein schweres Künstlerschicksal sich vollzogen hat, das zu durchschauen überfordert die meisten Nieder-Olmer.
Doch die Brüder Metten können, wie sonst nicht allzu viele, unterscheiden. Zwar ist es auch für sie verwerflich, mit dem kirchlichen Sakrament geschlossene Ehebande zu brechen und in wilder Ehe zu leben. Doch mindert das nicht die Wertschätzung für das literarische Schaffen und die im Werk unschwer erkennbare menschliche Substanz Wilhelm Holzamers. Der Mann, der in seinen Novellen Rheinhessen ein Denkmal gesetzt hat, ist für die Mettens auch aus ganz persönlichen Gründen interessant. Spielt doch das Hauptwerk Holzamers »Vor Jahr und Tag« in der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht«. In ihr war Holzamer als Junge des öfteren, gemeinsam mit seinem Großvater, Andreas Holzamer. Die Schilderungen der Ortsansichten vom Wirtshaus aus – die Mettens können sie mit einem Blick aus dem Fenster nachvollziehen.
So ist Andreas Metten gar im Vorstand des Bundes, der zum 60. Geburtstag Holzamers am 28. März 1930 eine Gedenktafel am Geburtshaus in der Pariser Straße anbringt. Heinz Müller-Olm hat die Tafel geschaffen. Und eine Gedenkpostkarte, die der Bund zum gleichen Anlaß herausgibt, zeigt Holzamers Portrait, gezeichnet von Jean Metten. Auch legt der Bund das Werk »Vor Jahr und Tag« neu auf. Holzamers Bücher sind – selbstverständlich – Bestandteil der Mettenschen Bibliothek.
Im stockkonservativen Nieder-Olm mag das Engagement für den Verfemten nicht auf ungeteilte Gegenliebe stoßen. Doch die Mettens sind – wenn auch selbst zutiefst konservativ – so doch Freigeiste. Auch und vor allem im Umgang mit der Kirche. Streng christlich sind sie beileibe nicht kritiklos. Keine untertänig-blinden, sondern bewußt-demütige Katholiken. Der Papst als höchste Autorität wird zweifellos anerkannt. Ein Treffen mit Papst Pius XI. ist somit unbestreitbarer Höhepunkt im Leben des Jean Metten.






Privataudienz beim Papst –
Angst vor der Karriere    


Nach seiner Locarno-Reise 1927 hatte Metten 1929 erstmals Rom besucht. Über diese Reise gibt es keinerlei Informationen. Doch ein Jahr später reist Metten wieder nach Rom, diesmal gemeinsam mit Heinz Müller-Olm. Dieser berichtet:
»Die Fahrt war grausam. Dritter Klasse. Holzwagen. Wir sind mittags gegen Drei in Mainz abgefahren – die ganze Nacht durch – und kamen erst gegen Mittag in Rom an – grausam. Er (Jean Metten) hatte gesagt: ›Nehm rohe Eier mit und Schnaps und ein bißchen Brot. Die Eier kann man trinken.‹ – Die Strapazen der Reise, vitale Italiener, die einen in die Ecke drängten – das hat ihn nicht gekümmert.
Wir wohnten bei Pallottiner-Mönchen in einem Haus für wandernde Gesellen. Er hatte das organisiert, ich hab' da nix geplant. Wir sind viel durch die Stadt gebummelt, auch mal 'nen Halben getrunken, er hat alles wohlwollend akzeptiert.«
Es ist eine sorglose, ja ausgelassene Zeit in Rom. Früh morgens besucht Metten in einem Kirchlein den Gottesdienst, dann ist er mit Pinsel und Papier unterwegs, aquarelliert die Peterskirche, Brücken. Metten ist voller Bewunderung, nimmt auf, ohne Kritik. Natürlich kommt man auch nicht am politischen Leben Italiens vorbei. Wenn ein Italiener im Schwarzhemd kommt, von Mussolini spricht, um kurz darauf zu erklären, unter dem schwarzen Hemd trage er ein rotes Herz, da ist Metten hübsch still.
Doch typischer ist eine andere Geschichte. Als der durchtrainierte Heinz Müller-Olm einen Wettlauf mit einem Italiener vereinbart: »Wir haben so 100 Meter abgemessen, einer hat mit 'nem Taschentuch dagestanden – und es ging los. Der Kleine ist gelaufen was er konnte, hat sogar seine Schlappen verloren, ist barfuß gelaufen. Ich hab' ihn natürlich überholt. Da gab's ein Gejohle und Geschrei – und der Onkel stand dabei und lachte.«
Vorläufiger Höhepunkt des Rom-Aufenthaltes indes ist eine Papst-Audienz. Heinz Müller-Olm: »Damals war der Papst noch Gefangener im Vatikan. Wir waren nur 15 Leute – eine Sonderaudienz quasi. Wir haben uns aufgestellt, und uns wurde gesagt, wenn der Papst kommt, sollten wir uns hinknien. Auf einmal kam die Schweizer Garde mit den Hellebarden, pflanzten sich vor der Tür auf – und der Papst kam an einer ganz anderen Tür rein. Ein paar Würdenträger waren mit ihm. Er ging herum. Da waren Franzosen, Italiener, und neben uns standen drei Bayern. Bergsteiger, mit kurzen Hosen. Da höre ich wie einer zum Papst sagt: ›Das sind Deutsche‹, und da hat er mit denen gesprochen: welchen Berg sie schon bestiegen hätten. Da haben sie irgend etwas genannt, da sagte er: ›Den kenn' ich.‹ Nachher hat er jedem einzelnen seinen Segen gegeben. Dann kam er auch zu uns, hat auch wieder gesagt: ›Tedesci?‹ – und ist wieder zur Tür raus.«
Ist diese »Sonderaudienz schon mehr als einem normalen Rom-Reisenden zusteht, so ist ein Privat-Empfang beim Papst kaum einzuordnen. Wie es dazu kam, daß Metten im Frühsommer 1930 dem Papst dabei seine Mappe mit Dom-Radierungen überreichen konnte, bleibt im Dunkeln. Dank Heinz Müller wissen wir jedoch, wie sich der für Metten wichtigste Tag seines Lebens abspielte:
»Es kam ganz kurzfristig – und dann gab's 'ne Mords-Aufregung. Zur Privat-Audienz mußte er im richtigen dunklen Anzug kommen. Und wir hatten ja nix dabei. Irgendwie durch die Mönche kamen wir zu 'ner Leihanstalt. Und da gab's dunkle Anzüge.
Er war natürlich aufgeregt. Er ist mit dem deutschen Botschafter hin. Mit dem hat er sich an den Collonaden getroffen – es war eine höchst offizielle Sache.
Ich war mehr aufgeregt als er – aber er war halt auch nervös, die Mappe mit den Dom-Radierungen hat er paarmal rumgedreht. Und alles richtig gelegt. Gründlich rasiert – diese kleinen Sachen waren sicherer Beweis seiner großen Anspannung. Er hat sich riesig gefreut. Es war eine eigentümliche Stimmung: ängstlich-freudig. Es war eine feierliche Sache. Ich ging mit ihm, bis er alleine weiter mußte. Der Botschafter war seriös angezogen, so ganz vornehm, nicht überkandidelt, ganz vornehm ist er geschritten. Und der Maler hatte so'n bißchen Steppelches-Schritt. – Wenn er schnell gegangen ist, dann ist er so gedeppelt. Sie sind rein, die Wachen haben sofort getrommelt, standen da wie die Hellebarden. – Und dann waren sie weg.
Ich hab' gewartet – und dann kam er. Er ist mit dem Botschafter raus, der ist dann mit seinem Auto weg. – Dann bin ich zu ihm hin. Er war selig. Ach was, er war überselig. Er hat gestrahlt. Ich bin auf ihn los: ›Wie war's?‹ Und da mußte er ja was sagen. Ich hab' gesagt: ›Komm, wir trinken wo was‹, aber wir sind ins Kloster, er war so aufgeregt. Er hat dagesessen, dann kamen die Mönche noch herbei. Ha, da hat er geschwärmt und hat gesagt, der Papst hätte sich erst mal nach ihm erkundigt, was er treiben tät. Dann hat er erzählt vom Mainzer Dom, daß er ihn gezeichnet hätte. Der Papst hätte gehört vom Dom, daß es ein schönes Bauwerk sei. Dann hätte er die Blätter einzeln betrachtet. Der Botschafter hat die Mappe gehalten. Dann hat er gesagt, er wolle den Kreuzweg malen für die Kirche. Und dann hat der Papst nach seinen Verwandten gefragt. – Er antwortete, ja, die Mutter lebt noch, und die Geschwister. Dann hat ihm der Papst seinen Segen gegeben – auch für die Verwandten, die Freunde. Danach haben sie sich verabschiedet. In dieser Art fünf Minuten beim Papst – das ist was Tolles. Und er war mindestens 'ne Viertelstunde da.«
Jean Metten, der Mann, für den jedes Pflänzchen als Bestandteil von Gottes Schöpfung heilig ist, für den jeder in der Dorfkirche gesegneter Gegenstand eine heilige Reliquie ist – gesegnet vom Papst selbst. Der Maler ist in seinem Lebensnerv getroffen, in seiner Arbeit gestärkt, innerlich erhoben.
Wie stark Mettens Glaube an die Grundfesten der katholischen Kirche ist, zeigt eine andere Episode aus Rom, da er Heinz Müller mehr oder weniger zur Beichte befiehlt. »Da war er sehr bestimmt: ›Da gehste hin.‹ Er hat mich geistig mehr als einmal am Ohr gekriegt.«
Metten selbst läßt sich nicht kriegen. Denn dem 46jährigen bieten sich in Rom auch berufliche Perspektiven. Nach der Privat-Audienz wird er in die Deutsche Botschaft zum Tee eingeladen und offenbar ein wenig hofiert. Heinz Müller-Olm: »Er hat erzählt: ›Da gab's so'n kleines Tässchen, da haben wir uns nicht setzen dürfen, da sind wir so rum und haben unser Tässchen in die Hand nehmen müssen – und nebendran haben so Gebäckstückchen gelegen.«
Bei dieser Gelegenheit wird Metten gefragt, ob er nicht in Rom an einer kleinen Akademie Dozent werden wolle. Doch er sagt nein. – Auch massive Vorhaltungen von Heinz Müller-Olm können ihn nicht umstimmen. »Nein, nein, meine Mutter, meine Mutter daheim, ich kann nicht von meiner Mutter weg« – da bekommt er vor lauter Verlegenheit Angst. Die Mutter ist mehr als nur ein Vorwand. So gerne Metten in Italien weilt, irgendwann muß er zurück nach Nieder-Olm. »Wenn der den Kirchturm seiner Heimatgemeinde nicht gesehen hat, ist er krank geworden«, urteilt später ein Verwandter. Metten hat Heimweh, will aus seiner kleinen Welt gar nicht heraus. Er wirkt im Stillen, für sich, zum Lobpreis von Gottes Schöpfung. Welches höhere Lob als das des Papstes hätte er denn noch zu erwarten?
Seine Arbeit in Italien wird durch die Ereignisse nicht berührt. Rom, Neapel, Pompeji – Metten zeichnet Straßen, Brücken, Kirchen. Und wenn er irgendwo ein Blümchen entdeckt, dann malt er es mit Liebe in seine Zeichnung hinein. Auch in Assisi weilen die beiden Nieder-Olmer drei, vier Tage. Bei den sogenannten »Grauen Schwestern«, den Elisabethschwestern im Fremdenhospiz.
Neben ihnen ist eine Gräfin einziger Gast. Eine gebildete, gepflegte Frau, mit der Metten lange intensive Gespräche führt, während Heinz Müller-Olm seiner Wege geht. Die Frau hat Format – und ist sicher jemand, mit der Metten als Mensch sehr gut auskommen könnte. Doch an mehr als an angeregte Gespräche, gegenseitiges Verständnis, freundschaftliche Liebe ist nicht zu denken. Metten ist mit seiner Kunst verheiratet. Und die ist an Rheinhessen gebunden.
1931 kommt er nochmals nach Rom. Über diese vierte und letzte Italien-Reise ist wieder nichts bekannt.
Von den Reisen bringt er jedem Familienmitglied etwas mit. Er vergißt niemanden, nicht einmal das Küchenmädchen, das er mit einem Rosenkranz beschenkt.
So bedeutend die Privat-Audienz für ihn ist, er ist still in sich zurückgezogen mit seinem Glück. Engste Nachbarschaft, ja Freunde des Hauses Metten, erfahren erst lange nach dem Tod des Malers von dieser besonderen Ehre. Er geht mit dem Erlebnis nicht hausieren – er verschließt es in sein Herz, bewahrt es.






Der braune Aufmarsch –
Die »innere Emigration«    


Innerlich gefestigt, künstlerisch selbstbewußt strebt Metten neue Werke an. Was er dem Papst erzählt hat, einen Kreuzweg für die Nieder-Olmer Pfarrkirche zu malen, ist sein Herzenswunsch. Und er hat noch mehr Pläne. Mit dem Nieder-Olmer Lehrer Rektor Roth will er ein Buch über die Geschichte Nieder-Olms veröffentlichen. Roth will die Texte zusammentragen, Metten illustrieren. Doch über das Planungsstadium kommt das Buch nie hinaus.
Ebenso ergeht es einer anderen Publikation, die Metten anstrebt. Der Würzwisch beschäftigt ihn seit Jahren. Die Heilkräuter, die in den rheinhessischen Wiesen gesammelt werden, will er alle zeichnen und – mit erläuternden Texten versehen – veröffentlichen. Denn diese Kräuter sind der Jungfrau Maria geweiht. Für den Künstler sind sie zudem sichtbarer Beweis von Gottes Wirken in der Natur. Er hat die Kräuter oft in seine Bilder eingearbeitet.
Metten spricht viele Menschen an, die er um Textbeiträge bittet, vor allem Lehrer. Auch macht er sich daran, alle 33 Heilkräuter aufzufinden, was gar nicht so einfach ist. Noch Jahrzehnte später ist er auf der Suche nach einzelnen Kräutern.
Immerhin: Der Mann ist vital, will schaffen und ist jetzt – kurz vor seinem 50. Geburtstag – auch in jeder Hinsicht dazu in der Lage.
Doch die Zeiten sind nicht danach. Die unsicheren politischen Verhältnisse münden Anfang 1933 in die Herrschaft der Nationalsozialisten.
Der Freund des Hauses, Heinz Müller-Olm, erhält bald Berufsverbot, wird nicht in die Kulturkammer aufgenommen. Und den Juden des Dorfes droht Schlimmes. Mettens haben mit vielen Juden Kontakt. Mit Alterskameraden, über den Holzamer-Bund.
Schon 1933 dient das Atelier in der Pfarrgasse als vorübergehende Bleibe für einen Ingelheimer Pazifisten, der besser für eine Zeit lang von zu Hause verschwindet. So treffen sich teils politisierende, teils müßige Männer im Hof des Ateliers: SPD-Kreistagsabgeordnete, Juden, ja sogar der Trommler eines SA-Musikkorps, der unter seinem braunen Hemd eingefleischter Nazi-Gegner ist.
Da wird auch schon mal Unsinn gemacht, die ganze Meute zieht trommelnd und skandierend durch den Hof – zum Mißfallen eines »guten Deutschen« in der Nachbarschaft. Und selbst wenn die Nazis meinen, man solle die als »katholische Kommunisten« bekannte Clique »einfach gehen lassen« – ein befreundeter SA-Mann warnt die Gruppe vor einem geplanten Überfall. »Da hat der Onkel die Kapp' aufgesetzt und ist dann los mit seinen kurzen Schrittchen – wir sind in alle Winde«, berichtet Heinz Müller-Olm.
Die Wirtschaft zur Schönen Aussicht wird an Fassenacht »Mucker-Höhle«3 genannt. Man weiß, daß die Mettens mit den Braunen nichts zu tun haben wollen.
Die Bedrohung wächst. Politisch Unliebsame werden in KZs verbracht. Der Kreis um Jean Metten ist viel zu gut informiert, um nicht zu wissen, wohin die Reise geht. Man liest die »Rhein-Mainische Volkszeitung«: Dirks, Kogon, Knappstein.
Wie die Braunen schon im März 1933 wüten, wird eindrucksvoll von einer Frau erzählt, die als Hausmädchen im Hause Leopold Kramers arbeitete – beim Mitbegründer des Holzamer-Bundes und Freund Jean Mettens, einem Juden:
»Der Leopold hat immer samstags abends die Zeitung gelesen und ist nachher hinüber in die Brauerei. An diesem Samstag auch. Und wir sind ja dann schlafen gegangen. Ich hab' oben geschlafen. Und die im ersten Stock. Und auf einmal höre ich wie es klopft: ›Polizei, Polizei.‹ Und seine Schwester rief: ›Leopold, aweil ist die Polizei da.‹ Da ist sie nichts wie hinunter. Und sie haben aufgemacht, sonst hätten sie die Fensterscheib ...
Und da sind sie die Treppe hoch, in die Schlafstube. Und er hat bei seinem Vater geschlafen und er war höchstens eine halbe Stunde da – er ist immer so gegen elf gekommen – daß er gerade im Bett gelegen hat. Und da höre ich, wie die die Treppe hinaufgehen und gehen in die Schlafstube hinein und sagen: ›Heraus mit dem Kerl, heraus‹, und da hat der Vater gesagt: ›Na was wollt ihr denn?‹ ›Heraus, der muß heraus, der muß mit.‹ Und da wollten sie ihn noch nicht seine Schlappen, also das Nachthemd hatte er ja an, und wollten ihn noch nicht einmal die Schlappen anziehen lassen. Und da hat der Vater gesagt: ›Laßt ihn doch wenigstens seine Schlappen anziehen.‹ Und da ist er also auch mit den Schlappen ab – also nix wie hinaus.
Und seine Schwester und ich, wir haben unten in der Wohnstube gehockt und haben gewartet bis er kommt.
Also es war 2 Uhr, und auf einmal klopft es. Und da hat er gesagt: ›Mach mir auf, ich bin's!‹ Und da hat er ausgesehen – ich kann Ihnen nur sagen: die Augen haben geglitzert. Man meinte, die Augen würden rausfallen, so war er aufgeregt. Und da hatten sie ihn abgezogen4. Da hat er gesagt: ›Da können sie gucken wie ich aussehe.‹ Da hatten sie ihn geführt bis hoch ans Wasserhäuschen, und dort haben sie ihn abgezogen und haben ihn gehen lassen. Und hat aber vor 2 Uhr nicht heimkommen dürfen. Sie haben ihm gesagt: ›Wehe dem, wenn du vor 2 Uhr heimkommst, und da holen wir dich noch einmal.‹ Und die Kirchenuhr hat 2 geschlagen und da hat er geklopft an der Tür. Und da hat er gesagt: ›Da guck, wie sie mich zugerichtet haben. Aber eines sage ich Ihnen. Wenn der Krieg aus ist, Sie wohnen ja da hinten. Da vorne am Telegrafenmast hänge ich sie alle auf.‹«
Nach einem Vorfall 1935 wird Jean Metten, der ohnehin kein mutiger Bekenner ist, gänzlich still. Das Erntedankfest wird von der Partei zu großen Aufmärschen benutzt, und Metten sagt bei der Weinlese: »Die würden besser die Stare vertreiben, als im Dorf herumzuziehen.« – Die Bemerkung wird weitergetragen, und nur weil der Denunziant, als es gilt, die Anklage und ihre Folgen zu vertreten, seine Aussage relativiert, bleibt dem Maler das KZ erspart.
Dennoch: Mit »Heil Hitler« grüßen die Mettens weiterhin nicht, und in die Kirche gehen sie auch. Ohnehin ist das mit dem Nationalsozialismus in Nieder-Olm so eine Sache. Bei einer Fronleichnamsprozession zum Beispiel stellt sich ein Braunhemd spottend und grölend der Menge entgegen. »In Null-Komma-Nix hatten dem die Prozessionsteilnehmer in die Fresse gehauen.« – Folgenlos.
Doch der braune Zeit-Ungeist zwingt die Mettens in die Defensive. Und sie empfinden es als persönliche Niederlage, daß auch sie zu Freunden und Bekannten auf Distanz gehen müssen, wollen sie das eigene Leben und die Existenz der zehnköpfigen Familie nicht aufs Spiel setzen.
Bei Sammlungen für NS-Organisationen steht Andreas Metten immer als nobler Spender in den Listen. Er gibt genau das, was ihm von den neuen Machthabern für seine sechs deutschen Kinder als Kindergeld zugestanden wird. Obendrein leistet er es sich, einen Mann kurzfristig einzustellen, der aus einem linientreuen Betrieb gefeuert worden war.
Bei Jean bewirkt der äußere Druck vor allem eines: er geht in die »innere Emigration«. Ein tatkräftiger, aktiver Mensch war er ohnehin nie gewesen. Jetzt, da man nicht nur mutig, sondern fast tollkühn sein muß, jetzt ist von ihm erst recht kein lautes Wort in der Öffentlichkeit zu hören.
Seine Kunst würde gut zum offiziellen Reichskunstbetrieb passen. Doch der Reichskunstbetrieb paßt nicht zu ihm. Jean Metten ist nie versucht, die Tendenzen auszunutzen, um Geld und Anerkennung zu erlangen. Das Leben wird zur Qual, der Zeitgeist stößt ihn ab. So macht er das gleiche wie der Bruder Andreas: Er widmet sich der Familie, den Kindern. Debattiert höchstens im vertrauten Kreise und versucht durchzukommen.
Die Augen verschließt Jean Metten freilich nie. Sehr genau registriert er, wer was tut, welche Zusammenhänge sich ergeben. Wie als Soldat im Ersten Weltkrieg, so fällt es ihm auch jetzt sehr leicht, aus offizieller Propaganda die Wahrheit herauszufiltern. So weiß er um Konzentrationslager für politisch Andersdenkende und ist auch im Lauf der Entwicklung früh über die Vernichtungslager informiert. Der Satz: »Wir haben nichts gewußt«, kommt nie aus seinem Mund. Er stellt sich später höchstens die Frage: »Was hätte ich tun können?« Und beantwortet sie in seinem moralischen Rigorismus, der sich so völlig von seiner tatsächlichen Kraft unterscheidet, daß er sicherlich mehr hätte tun können – theoretisch. Denn der sanfte, behutsame Mann, der sein Leben damit verbringen will, Gottes Schöpfung zu ehren, ist vom Naturell her nicht dafür geschaffen, zu kämpfen. Er betet zu Gott und lebt in der Familie.
Seine Arbeit ruht zwar nicht ganz, doch ist der Elan gebrochen. Wieder droht die Welt in Scherben geschlagen zu werden, wieder kehrt sich alles ab von Gott.
Und wieder ist es sein unerschütterlicher Glaube, der ihm durch die Zeit hilft. In die Kirche geht er weiterhin jede Woche. Auch wenn währenddessen draußen provozierend Lärm gemacht wird oder Kirchgänger notiert werden, dieses Risiko nimmt er auf sich. Denn für sein Seelenheil wäre es riskanter, würde er nicht mehr die Messe besuchen.
Die wenigen verbliebenen Freunde verkehren nach wie vor im Hause Metten. Für die Kinder ist es immer ein Ereignis, wenn der blinde Bildhauer Schmitt sie mit den Händen erkennt oder der nun beruflich eingeschränkte Richard Knies im Hause liest.
Solange es geht, hält Jean Metten den Kontakt zu Juden aufrecht. Die Nichte Barbara erzählt: »Bei Bergers, Zigarrenhändler, da waren wir sogar noch, als die die Judensterne anhatten. Da war ich auch mal mit dort. Wir sind dreimal drum rum – und als niemand da war, sind wir reingeschlüpft.«
Doch lange ist der Kontakt nicht aufrecht zu erhalten. Viele jüdische Freunde verlassen rechtzeitig das Land, auch manche Arier, die auf ihre Rasse beileibe nicht stolz sind, sondern als politisch Andersdenkende dem Unheil entfliehen. Metten bleibt. Er wird nach dem Krieg mit einer ganzen Reihe von ehemaligen Nieder-Olmern Kontakt aufnehmen. Doch jetzt bleibt er. Weg von seinem Heimatort? – undenkbar. Undenkbar auch, nachdem die Mutter, 85jährig, am 11. November 1935 stirbt.
Der Tod der kranken Mutter trifft Jean Metten offenbar nicht allzu schwer. Zwar: die Mutter, tief geliebt, steht ihm sehr nahe. Doch der gläubige Christ weiß, daß nach dem irdischen Leben etwas Neues kommt. Die Mutter aber hat ihr Leben auf Erden abgeschlossen.
Das Leben in der Familie dreht sich um die sechs Kinder. Der Onkel malt sie, zeichnet sie, erfreut sich an ihrem Heranwachsen. Er ist für sie ein Vater-Ersatz. Denn der Bruder Andreas legt Wert auf Zucht und Ordnung. Er hat sein weiches Herz unter einer rauhen Schale und ist den Kindern gegenüber unnachgiebig, ja unnahbar. Allenfalls die Älteste, Apollonia, kann ihren Vater um den Finger wickeln. Sie ist die Lebhafteste der Geschwister, die sich vom Vater unverstanden fühlen.
Der Onkel bildet hier den Ausgleich. Er spielt mit den Kindern, indem er zum Beispiel eine Decke nimmt, sie um einen Tisch hängt und die Kinder sich darunter jetzt ein Häuschen einrichten können. – Als der Vater kommt, wird alles wieder zusammengeräumt.
Der Onkel sorgt auch für Märchenbücher im Haus: Grimm, Andersen, Hauff. »Er war kein Onkel zum Vorlesen, aber er hat sich gerne mal in eine Märchenwelt versetzt.« – Er kauft Sammelalben mit Zigarettenbildchen und klebt sie für die Kinder ein. Er spielt Ersatzpate bei der Nichte Barbara, deren Patin früh stirbt. Damit das Mädchen an Weihnachten auch etwas »vom Geetche« bekommt, kauft der Onkel Geschenke. Er hilft sogar bei den Schulaufgaben:
»Vater hat nur geguckt, ob's richtig war. Wenn wir was nicht gewußt haben, saßen wir da wie die verlorenen Blümelchen und warteten, bis der Onkel kam. Der ist immer schön still gekommen, hat Zeitung gelesen, und dann sagte er: ›Wo kaust du denn wieder 'rum. Was klappt denn da nicht?‹ – Er hat auch alles gekonnt. Und wenn er's nicht konnte, sagte er: ›Das finden wir.‹ ... Der Onkel hat uns schon als Kinder gesagt: ›Euer bester Helfer, wenn ihr niemand habt: der Herder.‹ Der war immer auf dem Tisch.«
Wenn der Onkel aus Mainz kommt, wo er Malbedarf einkauft, dann bringt er den Kindern Schokolade mit. »Er hatte so'n Riegel, da waren sechs Rippen dran. Die hat er auseinandergebrochen. Da hat jeder ein Rippchen Schokolade gekriegt. Das war ein Fest. Das haben wir von unserem Vater nicht gekriegt. Der hat noch geschimpft, wenn uns die Mutter fünf Pfennig für Eis gab. Das war verschwendet.«
Körperliche Züchtigung ist den Kindern fast unbekannt – fast. Der Onkel schlägt keinen, noch nicht mal hinter die Ohren. Der Vater nutzt höchst selten, dann aber kräftig, »die Kawaatsch«5 als Erziehungsmittel.
Das Leben im Haus ist trotz der Zeitumstände idyllisch-familiär und religiös. Die Tante ist schon morgens um 6 Uhr in der Kirche. Regelmäßiger Kirchgang, sonntags gar zweimal, ist für die Kinder Pflicht. Daheim werden Marienlieder gesungen. In der Weihnachtszeit sitzt man zusammen, die Mädchen spielen auf der Flöte. An Weißen Sonntagen wird besinnlich gefeiert, der Pfarrer des Ortes ist Gast.
Zu Gast sind auch weiterhin die Künstler-Freunde: Maria Ziegler und Alterskameraden wie der spätere Oberbürgermeister von Bad Homburg, Karl Horn, der Tierarzt Striegler, dessen Vater Amtsgerichtsrat war, und einige mehr. Die Brüder Metten leben den Grundsatz »Dein Freund ist mein Freund«. Doch bei allen Gemeinsamkeiten gibt es auch Gegensätze im Umgang mit den Mitmenschen. Andreas meint: »Sage mir, mit wem Du umgehst, und ich sage Dir, wer Du bist.« – Wenn einer ein klein wenig Dreck am Stecken hat, ist sofort ein Abstrich da. Der Maler ist weitaus toleranter und weicher.
Das zeigt sich in scheinbaren Nebensächlichkeiten. Wenn geschlachtet wird im Betrieb, dann geht er weg.
So ein Schlachttag ist ein Festtag, denn die gute Wurstsuppe wird in der ganzen Nachbarschaft verschenkt. Ehrensache, daß für jedes Kind in der Nachbarschaft auch ein Leber- oder Blutwürstchen in der Suppe schwimmt. Auch wenn es ihnen selbst nicht gerade fürstlich geht, teilen ist für Mettens kein Fremdwort.
Die Kunst von Jean Metten ruht freilich. Nur wenige Bilder entstehen. So sieht er einmal die drei Nichten Apollonia, Barbara und Elisabeth aus dem Dorf die Pariser Straße entlangkommen. Er schickt sie wieder und wieder gemeinsam los oder paßt ihren Schulweg ab, um sie zu malen. Die Mädchen müssen auch öfter Modell sitzen – aber großes Schaffen ist ihm nicht mehr möglich.
Der Maler hackt eher Holz oder häckelt im Garten, als daß er in dieser bedrohlichen Zeit zum großen künstlerischen Wurf ausholt. Der über 50jährige hat längst kauzige Gewohnheiten, die den Kindern aufstoßen: »Bei der Johannistrauben-Ernte hat er immer die Schönsten aus der Spitze rausgeholt und gesagt: ›Die sind am meisten in Gefahr, die muß ich zuerst roppen.‹ Wir mußten die Kleinarbeit machen und er hatte immer sein Körbchen voll.«
»Im Herbst kam er nach dem Essen mit Birnen und hat uns nach dem Mittagessen eine gegeben und wunder was getan, was das für ein Nachtisch wär.«
Überhaupt, die Tischgewohnheiten: Des Mittags ißt die Familie – zehnköpfig – gemeinsam das karge Mahl. Und der Onkel will so etwas wie Tischgespräche führen: »Das müssen die lernen, in großer Gesellschaft ist das so.« Sein Bruder Andreas ist dagegen: »Sei doch mal still, die sollen essen.« Natürlich setzt sich Andreas durch.
Meinungsverschiedenheiten zwischen den gut harmonisierenden Brüdern gibt es also auch. Sogar manchmal, wenn politisiert wird. Obwohl es sich nur um kleine Unterschiede handeln kann, denn im Prinzip sind sich die beiden einig. Es kann bei Diskussionen trotzdem vorkommen, daß der Onkel irgendwann mit den Worten: »Do leck mich doch am Dooges« in sein Zimmer abzieht. Am anderen Tag sind sich die Brüder deshalb aber nicht gram.
Sein Zimmerchen teilt der Maler mit der Schwester, getrennt durch einen Vorhang. Die Schwester sorgt auch dafür, daß der Bruder die Wäsche wechselt – da gibt es Wortduelle, wie sie in vielen Ehen gang und gäbe sind. Fast schon Rituale, ohne die die Beteiligten nicht mehr auskommen:
»Tante war sehr reinlich, Onkel das Gegenteil. Der hat mal ein bißchen Wasser um Arme und Ohren gemacht – das war ein ewiger Kampf mit der Tante. Die hat geschimpft. Sie hat immer gesagt: ›Das ist man seiner Menschheit schuldig, daß man sauber daherkommt.‹ Sie hat Onkel immer bemerkelt. Er, wohl aus Kontra, hat dagegen gemacht. Onkel sagte, wenn Tante guckte: ›Mach doch net so Stielaugen.‹«
Ein Ritual auch, wenn die Schwester den Bruder zur Mahlzeit ruft: »Schoo« (Jean) ertönt es dreimal in steigendem Ton. Nur bei der Hauptmahlzeit ißt der Onkel mit der Familie. Ansonsten hat er es sich angewöhnt, im Stehen zu essen: »Er steht am Küchenschrank und muffelt sein Frühstück. Hat 'ne Tasse mit Milch darin. Da tunkt er auch mal ein Brot rein. Wenn Butter da ist, macht er ein bißchen Butter drauf, wenn nicht, dann halt nicht. Käse ißt er sehr gern – den macht Tante immer selbst. Das ist ein Fest für die Familie, auch wenn für jeden nur ein kleines Klümpelchen abfällt.«
Im Feld hilft der Maler kaum noch. Sein Elan ist gebremst – er versucht zwar, in den Alltag zu fliehen, doch er kann es nicht.
Braune Aufmärsche, politische Unfreiheit, Verlust der Freunde bestimmen das Leben. Die täglichen Gewohnheiten ändern sich. Zudem werden Mettens gefordert: als Helfer. Bei einer Kommunionfeier in Nieder-Olm hat ein Bürger das Bildnis Adolf Hitlers auf den Boden gestellt – für die Feierlichkeiten war das Zimmer umgeräumt worden. Als ein Gast fragt, wieso das Bild da an der Wand stehe, antwortet der Gastgeber: »Den Hitler kann man eben an die Wand stellen oder aufhängen.« – Der Mann wird abgeholt, seine jetzt mittellose Frau, die mehrere Kinder durchfüttern muß, erhält im Hause Metten eine Anstellung. Hilfe und Nächstenliebe sind nach wie vor keine leeren Worthülsen bei Mettens.
Die Kinder empfinden das zum Teil als große Ungerechtigkeit, wenn für die Gäste der beste Schinken gerade gut genug ist, wo doch an normalen Tagen zu den Pellkartoffeln ein kleines Fetzchen Wurst gereicht wird. Mit den Kindern ist vorsichtig umzugehen. Sie müssen richtig erzogen werden. Dabei ist zu vermeiden, daß sie draußen etwas ausplaudern. »Wir gewinnen doch«, sagt ihnen ihr Onkel. Wie das auszulegen ist, bleibt jedem selbst überlassen.
Der Krieg tobt und Mettens haben Glück, daß Jean und Andreas zu alt sind, Andreas' Sohn Johannes zu jung ist, um eingezogen zu werden.
Jean Metten tröstet die vielen Bekannten, deren Angehörige für Führer, Volk und Vaterland marschieren müssen. Er weiß Bescheid. Ein Radio hat er zwar nicht, doch gute Freunde hören Feindsender ab, und der Maler ist – wie immer – voll informiert. Sein Wissen freilich nutzt nur dem eigenen Gedankengang. »Widerstand« ist etwas, das nie in Frage käme. Jean Metten ist kein Held. Auch wenn er sich aus Wien von Bruder Stephan viele Bücher schicken läßt, die von den Klosterbrüdern auf offizielle Weisung hin eigentlich hätten verbrannt werden müssen. So etwas fällt unter die Rubrik Hilfe.
Hilfe gibt's auch für die Familie Knies und den Bildhauer Jakob Schmitt, die nach dem Bombardement auf Mainz ins Atelier ziehen. Ein paar Matratzen, ein paar Decken, irgendwie geht alles. Andreas Metten sorgt dafür, daß immer etwas zu essen da ist.
Jean Metten ist als Künstler registriert und wird aufgefordert, in Mainz die Zerstörungen durch die alliierten Bomber im Bild festzuhalten. Wie sich dem offiziellen Auftrag entziehen? Die Nazis rechnen zu dieser Zeit – 1942 – noch damit, daß Mainz als zerstörte deutsche Stadt ein Ausnahmefall ist. Sie wollen die Brutalität der Gegner auch von Künstlern festgehalten wissen. So fährt Metten nach Mainz und fertigt sechs Federzeichnungen, in denen er einfach darstellt, was ist: Mainz, zerstört.
Bei der großen Gau-Ausstellung im September 1943 in Frankfurt werden die Werke von vielen Mainzer Künstlern in einer Sonderschau »Das zerstörte Mainz« präsentiert. Bilder, auf denen Hitlerjungen die Fahne des tausendjährigen Reiches schwenken, finden Beachtung. Die Blätter Mettens sind in der Besprechung der Mainzer Zeitung kaum berücksichtigt. Pflichtgemäß formuliert die Chronistin im letzten Satz eines groß angelegten Artikels: »Die Sonderschau wird durch eine Reihe guter Arbeiten von Sophie Grosch, Franz Weber, Jean Metten (Nieder-Olm), Hedwig Mauder, Frieda Best, Hermann Edelbauer und Heinrich Seck-Carton geschlossen, die Erlebnistiefe und die überall spürbare Liebe zur Heimat ausdrücken.«
Auf Jean Metten bezogen, ist das noch nicht einmal gelogen. Der Maler liebt seine Heimat. Doch die Blätter zeichnet er, um möglichst elegant die für ihn damit verbundenen Schwierigkeiten zu umgehen.
Diese drohen noch einmal ganz unmittelbar kurz vor Kriegsende. Am 1. Juli 1944 erhält Jean Metten, wohnhaft Hindenburgstraße 41, seinen Bereitstellungsschein: » ... haben Sie in absehbarer Zeit mit Ihrer Einberufung zu rechnen, und zwar innerhalb einer kurzen Zeitspanne.«
Der 60jährige sieht seiner zweiten Einberufung entgegen. Nicht viel besser ergeht es dem Neffen Johannes. Der, Jahrgang 1929, soll ebenfalls einrücken in den letzten Tagen des Krieges. Die Amerikaner kommen Hitler zuvor. Über das Ende des Zweiten Weltkrieges für Nieder-Olm berichtet Mettens Nachbar Anton Weisrock:
»Es war so zwei Tage vor Kriegsende. Da stehen wir am Tor der Hubertusmühle, Metten, Hubertus und ich. Die Amis waren schon bei Sprendlingen. Wir hatten mit Soldaten, die zurückkamen, Kontakt aufgenommen. Wir haben einen gefragt: ›Besteht Gefahr für die Bevölkerung? Ist was zu erwarten?‹ Er sagte: ›Ach was, wenn die Leute sich nicht wehren, passiert nichts.‹ ... An einer großen Scheune waren SA-Propaganda-Sprüche mit Ölfarbe. Onkel fragte: ›Was machen wir nur damit?‹ ›Ami bleib daheim, der Russe ist schon in Berlin‹ – stand da auf englisch. Das hatte er (Jean Metten) sich übersetzen lassen. ›Das muß doch weg. Stell Dir vor, wir wohnen da – und da vorne diese Propagandaschrift – die schießen unsere Häuser kaputt.‹ Ich wollte es nachts abmachen, aber es ging nicht. Ich hab's dann mit Lehm gemacht. Und Onkel Jean war überglücklich, daß es weg war ...
Es war nachmittags, nach fünf, als die Amis vom Ort, von der evangelischen Kirche her, gekommen sind. Und Onkel Jean, ich hab' das gar nicht gemerkt, ist aus dem Keller der Hubertusmühle wieder hochgegangen, rüber in sein Haus. Und hatte da schon die Stange liegen mit einer weißen Fahne: Bettlaken. Er hat das am Fenster rausgehängt. Und dann kam er rüber: ›Schnell, schnell, die weiße Fahne raus, die Amis kommen.‹ Ich hatte da nie dran gedacht. Bin in den Keller: ›Schnell ein paar Windeln her‹, die hab ich ans Tor gesteckt ... Es war klar: die Amis machen nix.
Nur der Onkel Jean ist hin und her gewandert. Der hatte keine Ruh' im Bauch. Der war so aufgeregt, der hat's gar nicht abwarten können. Er hat immer gesagt: ›Wer die Kirche angreift und die Juden angreift – das kann gar nicht gut gehen –, der ist dem Untergang geweiht.‹«
Der Krieg ist aus. – Das tausendjährige Reich nach zwölf Jahren zusammengebrochen. Diese zwölf Jahre können für das Schaffen von Maler Metten als Verlust abgebucht werden. Es ist eine einfache Rechnung: Jugend im bäuerlichen Elternhause, Erster Weltkrieg und das Nazi-Regime kosten den Maler zusammen 25 Jahre seines künstlerischen Lebens und Schaffens.
Jean Metten ist jetzt 61 Jahre alt und hat zunächst Probleme eigener Art. Ende der 20er Jahre hatte er 88 seiner Radierplatten einer Berliner Firma überstellt. Die Druckerei Felsing sollte bei Bedarf Abzüge der Radierungen liefern. Die Platten wurden im Krieg zerstört. Damit ist Jean Mettens Plan, sie zur Altersversorgung zu nutzen, dahin. Zerstört wurden die Dom-Radierungen, von denen er noch einige Abzüge in Nieder-Olm besitzt. Zerstört wurden aber auch Werke, die er lediglich in einem halben Dutzend Probeabzügen vorliegen hat. Sie sind unwiederbringlich verloren. Genauso fiel ein Teil der Ölgemälde, die in den 20er Jahren in Mainz verkauft worden waren, dem Bombenhagel zum Opfer.
Metten nimmt den Verlust gelassen hin. Man hätte in den vergangenen zwölf Jahren viel mehr verlieren können, als nur seine Altersversorgung.
Er ist jetzt vom ersten Tag an damit beschäftigt, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Er sucht – und findet – Kontakt zu ehemaligen Freunden im Ausland. Er schreibt ihnen vom Deutschland der Nachkriegszeit und versucht, den Nieder-Olmern in der Fremde eine private Wiedergutmachung zu geben. Er verschickt Aquarelle, Ölgemälde. Die Juden und politisch Verfolgten sollen ein Andenken an die Heimat haben. Einer von ihnen, der schon zitierte Leopold Kramer etwa, kehrt nie mehr nach Deutschland zurück. Zerfressen vor Heimweh stirbt er in Südamerika.
Doch noch etwas versucht Jean Metten zu erreichen: den Leuten draußen klar zu machen, daß Nazis und Deutsche nicht das gleiche sind. Liesel Groß, 1936 aus Nieder-Olm in die USA geflohen, schreibt: »Herr Metten schickte mir auch zwei Bücher nach dem Krieg. ›Anne Frank‹ und ›Die weiße Rose‹. Wir sollten nicht denken, daß alle Deutsche Nazis waren!«
Der Maler sammelt alle Informationen. Er will von Augenzeugen wissen, welche Nazi-Mitglieder im Dorf bei welchen Schandtaten federführend waren. Und er empört sich. Nach dem Einmarsch der Amerikaner ist zum Beispiel kein Dolmetscher zu finden. Man nimmt schließlich einen, der den Nazis nahe gestanden hatte. So etwas ärgert ihn. Er wird zwar nicht aktiv, um Leute ihrer gerechten Strafe zuzuführen, aber er will die Zusammenhänge kennen, um seine persönlichen Konsequenzen zu ziehen.
So gibt es in Nieder-Olm Familien, denen er mit ausweichenden Begründungen nie Bilder verkauft. Die wahre Ursache ist, daß diese Familien in brauner Zeit in Erscheinung getreten waren. Auch ein Nieder-Olmer Unternehmen, das an Metten herantritt, um seine Bilder zu Werbezwecken einzuspannen, erhält Absagen. Obwohl Jean Metten zu den Eltern des betreffenden Firmeninhabers ein gutes Verhältnis hatte. Die NS-Tätigkeit des Sohnes sieht der Maler nicht als Jugendsünde. Um sich so zu verhalten, wie es die Nazis taten, muß man von innen heraus schlecht sein, und von schlechten Menschen wendet sich Jean Metten ab.
Umgekehrt imponiert dem Maler echte menschliche Größe. Ein bekannter Nieder-Olmer Kommunist etwa, jahrelang im KZ, bekommt keine Entschädigung. Er ist – einfach so – für seine Überzeugung eingetreten. Das imponiert Jean Metten: »Der Kerl gefällt mir. Der ist zwar Kommunist und geht nicht in die Kirche ...«, aber charakterlich sieht er den Mann, der gar keine Entschädigung will, als einwandfrei an.
Die Herrschaft der Amerikaner, und Wochen darauf der Franzosen, empfinden die Mettens nicht als bedrückend. Zwar soll die Wirtschaft wegen ihrer verkehrsgünstigen Lage geräumt werden, doch das wird nicht durchgeführt. Auch weil man weiß, daß die Mettens mit den Nazis nichts zu tun hatten. Die Wachposten kommen sogar ins Haus, um mal etwas zu trinken, trotz Fraternisierungsverbot.
Wenn auch verärgert, so doch gelassen, nehmen es Jean und Andreas Metten hin, wenn französische Soldaten sich ungeniert im Weinberg bedienen. Zum einen sind sie natürlich auch jetzt keine Kämpfernaturen. Zum anderen wissen sie aber aus ihrer eigenen Kriegserfahrung, was Besatzungstruppen alles anrichten könnten.






Der Maler als Kunstlehrer –
Angst vor Verpflichtungen    


Die Wirren der Nachkriegszeit bringen etwas vollkommen Neues für Jean Metten: er wird Kunstlehrer. Zwei junge Damen, die bei Heinz Müller das Modellieren lernen, fragen an, ob Metten ihnen das Zeichnen beibringen könne. Und so entsteht noch im Herbst 1945 eine kleine Privatschule. Der Wirtschaftsbetrieb in der »Schönen Aussicht« war schon 1943 von den Nazis stillgelegt worden, und nun haben die Besatzungsmächte auch den Wein beschlagnahmt. Da gibt es Raum und Zeit genug, die Schule aufzuziehen.
Allerdings ist es kein normaler Schulbetrieb. Die jungen Leute, schließlich ein halbes Dutzend, bringen kein Schulgeld mit oder entlohnen den Maler anderweitig. Im Gegenteil: In familiärer Atmosphäre wird der Unterricht erteilt, und wenn es zum Mittagstisch geht, und mancher Schüler aus ärgster Not heraus gerade ein armes Süppchen oder ein paar Pellkartoffeln dabei hat, dann jagt die Schwägerin, Andreas' Frau, die Kartoffeln erst mal durch die Pfanne. Die Schüler bekommen so zum Unterricht auch etwas für den Magen dazu.
Jean Metten erscheint ihnen allen als angenehmer Lehrer. »Er machte einen rheinhessischen Eindruck. Rheinhessen, die möchten sich gerne unterhalten und wissen ... Er war ein bißchen listig. Mit so kleinen, vergnüglichen Äugelchen. Als Lehrer ließ er einem seine Persönlichkeit. Er ist ganz selten in die Arbeit reingefahren. Er hat immer nur erklärt: ›Hier, das sollte man vielleicht so machen, und da, gucken Sie mal, das sieht anders aus ...‹«
Der Unterricht gestaltet sich einfach. Entweder wird eines von den Kindern als Modell verpflichtet oder Metten stellt ein Stilleben zusammen. Zur Kunst im allgemeinen äußert er sich dabei kaum. In seiner ruhigen bedächtigen Art versucht er, den Schülern technisches Können zu vermitteln. Hierzu Schülerstimmen:
»Er wollte keine kleinen Mettens aus uns machen.«
»Er hat nie in einer Zeichnung rumgefummelt. In ruhigem Ton hat er auf Fehler aufmerksam gemacht. Das hat er sehr zart gemacht. Er war kein Lehrer-Typ, er war kameradschaftlich.« (Johann Eckert)
»Im Urteil war er sehr zurückhaltend. Nur, wenn etwas gar zu schlecht war, hat er ein Bonmot angebracht. Einmal hatte er Tusche-Fäßchen und Pinsel auf einen Tisch gestellt. Das sollten wir zeichnen. Ich hab' mich da n'en ganzen Morgen abgequält. Da kam er, er gab sehr wenig und vorsichtig Korrekturen. Er guckte sich das an, guckt das Motiv an, guckt wieder auf mein Blatt, schüttelt den Kopf. ›Sagen Sie mal, haben Sie 'nen Seh-Fehler?‹ Später hat sich bei einer Untersuchung herausgestellt, daß ich tatsächlich 'nen Seh-Fehler hab. Er hat's intuitiv gesehen, hat unheimlich genau beobachtet. Ich fragte: ›Ja, was ist denn da so unmöglich?‹ Er: ›Ach, kommense doch mal her. Ich seh die Kante von dem Tisch da ganz anders.‹ Die hat er richtig reingesetzt: Schon war das Blatt gut.« (Friedel Jordan)
Jean Metten gefällt der Unterricht. Jungen Leuten sein Wissen zu vermitteln, das ist nach zwölf Jahren totalen Unsinns in Deutschland endlich wieder etwas Sinnvolles. Dennoch sind die Urteile der Schüler zwiespältig. Einige machen so etwas wie Resignation bei ihm aus, auch wenn der Unterricht dadurch nicht leidet.
Aber sein eigenes Schaffen geht nicht so recht voran. Metten braucht die Schüler, um für sich wieder ins Reine zu kommen. Bei aller Bedrückung blitzt sein hintergründiger Mutterwitz ab und an durch. Friedel Jordan: »Einmal haben wir ein Stilleben gemalt. Blumenvase mit blauen Blumen. Ich hab' mich da rumgequält mit Ölfarbe. Er hat nicht viel dazu gesagt. Gefallen hat's ihm bestimmt nicht – er ließ aber jedem seine Individualität. Er sagte: ›Ich will Ihnen was sagen. Kennen Sie den Mainzer Maler Strecker? Wissen Sie, der hat gesagt: ›Sehen Sie da hinten den blauen Schatten, den die anderen grün malen? – Den mal ich – violett.‹ Das hat mir schlaflose Nächte bereitet.«
Solche Anekdoten zeigen den humorvollen Maler-Onkel, der auch schon mal peinliche Situationen mit seinem Witz rettet. Gisela Bartels hierzu:
»Eines Tages kamen wir morgens da an. Und es war große Aufregung im Hause Metten. Man hatte nämlich Hühner gestohlen. Wir nahmen natürlich Anteil, das ist klar. Ich dummes Ding fragte dann, ohne mir etwas zu überlegen: ›Mein Gott nochmal, wie viele Hühner sind Ihnen denn gestohlen worden?‹ Worauf die ganze Familie schwieg. Es war absolutes Schweigen mit großen Augen. Bis auf einmal der Onkel etwas listig sagte: ›Ach, wissen Sie, die Hälfte.‹ Das war der Metten.«6
Gesprochen wird beim Unterricht nicht allzuviel. Von seiner eigenen Schulzeit erzählt Metten kaum. Nur, wenn er bei der Besprechung eines Bildes die Schüler im Kreis um sich versammelt und – genau wie damals bei ihm in Leipzig – nach den Erläuterungen eines Werkes sich zu den Schülern umdreht und erklärt: »Und das gilt für Sie, für Sie und auch für Sie.«
Manchmal nimmt der Maler die Schüler mit in die Wiesen, zeigt ihnen seine Motive: Blumen, Landschaften. Mehreren seiner Schüler schenkt er ganz spontan eine seiner Radierungen. Er schenkt neben seinem Wissen seine Werke, weil für ihn Geben wirklich seliger denn Nehmen ist.
Doch geben will er nur freiwillig. Als 1946 in Mainz die Kunstschule wiedereröffnet und der Mainzer Kulturdezernent und ein Museumsdirektor versuchen, Metten als Lehrer zu gewinnen, da weicht er ängstlich aus: »Nein, nein, ich kann das nicht.« Da schiebt er seine 60 Lebensjahre als Hinderungsgrund vor und bleibt, wo er ist, in Nieder-Olm. Tatsächlich würde ein Lehrbetrieb zuviel Druck ausüben auf den Mann, der sein ganzes Leben lang still und bescheiden, aber frei, seiner Kunst frönte.
Noch ein weiteres Problem kommt auf Jean Metten in dieser Zeit zu. Ein Problem, das die ganze Familie mehr als zehn Jahre beschäftigen wird: Der älteste Neffe Johannes will ebenfalls Künstler werden. Sein Vater Andreas hat nichts dagegen, daß Johannes an des Onkels Unterricht teilnimmt, und der Onkel ist stolz auf den Neffen. Friedel Jordan: »Ich hab' bis in die Augenlichter Portraits gezeichnet. Da sagte Metten: ›Da, gucken Sie mal, wie der Johannes es zeichnet.‹ Der warf mit großzügigen Strichen ein Portrait hin.«
Doch eines ist für den Vater Andreas Metten klar. Er hat einmal mitverfolgt, wie ein Künstler den Durchbruch nicht schaffte, wie – trotz allen Talentes, trotz aller sehr guter Werke – der Künstler im eigentlichen Sinne Sozialfall blieb. Abgesichert durch sein, des Bruders Mäzenatentum. Nicht nur, daß Andreas Metten für seinen Sohn keinen ebenbürtigen Mäzen sehen kann, er will einfach nicht, daß sich ein ähnliches Schicksal zum zweiten Mal in der Familie vollzieht. Jean sieht das anders. Er weiß, daß er – einmal mehr – die Interessen eines der Kinder seines Bruders vor dem Vater vertreten muß.
Den Maler erfüllt es mit Stolz, daß der Neffe – wie Jean es empfindet – in seine Fußstapfen treten will. Die Parallelen sind zunächst auch allzu deutlich. Da ist der landwirtschaftliche Betrieb, den der alte Andreas nicht alleine weiterführen kann und will. Da ist der älteste Sohn, der deshalb notgedrungen in Feld und Weinberg arbeitet und wartet. Hofft, daß der jüngere Bruder Andreas bald aus der Schule kommt, um den Betrieb zu übernehmen.
Der Vater wehrt sich mit aller Macht gegen des Sohnes Berufsziel, und der Onkel hält dagegen, so gut er kann. Den Neffen zu fördern, das ist sein Herzensanliegen. Schon 1946, als Johannes in der Privatschule des Onkels mitzeichnet, erweist sich, daß sich Jean als Onkel, Vater und Lehrer von Johannes empfindet. Johannes erzählt:
»Da gab's eine Auseinandersetzung zwischen dem Mainzer Maler Teo Gebürsch und dem Onkel. Teo Gebürsch ist zu Besuch gewesen, der Onkel kam durch Zufall dazu – und zwischen den beiden war eh ein bißchen gespanntes Verhältnis. Der Gebürsch würde mich sofort als Schüler nehmen, ohne die Vorschule vom Onkel, die nur akademische Stoffe beinhaltete. Geh ich durch die Schule vom Onkel, nimmt mich der Gebürsch nicht mehr, dann bin ich verdorben. Und der Onkel hat genau umgekehrt argumentiert: ›Wenn er durch meine Schule gegangen ist, kann er zu dir kommen, dann kann ihm nichts geschehen.‹ Das war 'ne Generationsfrage, aber 'ne entschiedene Konfrontation der künstlerischen Standorte. Ich mußte mich damals nicht entscheiden. Ich war Gast ein bißchen beim Onkel und später auf der Landeskunstschule.«
Bis es soweit ist, vertritt der Maler Johannes' Interessen und sorgt sich um die Finanzierung der Ausbildung.
Nicht nur das, auch den anderen Kindern hilft er, wo er nur kann. Den Nichten Barbara und Maria ermöglicht er in kurzem Abstand Reisen nach Rom. Er mahnt die jungen Leute an, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und freut sich an den Erzählungen der Heimkehrenden. Horizont erweitern, Glauben stärken – der Maler sorgt sich um die Kinder des Bruders, als wären es seine eigenen. – So empfindet er es und so wird er auch angenommen: »Unser Onkel war wirklich in allen Situationen der rettende Engel.«
Zum ersten Mal treten in dieser Zeit auch körperliche Gebrechen ein. Es geschieht am Tag der Verlobungsfeier der Nichte Apollonia: » ... da ist er verschwunden und kam wie lange nicht. Da war er im Hof umgefallen und war bewußtlos. Dann kam er und hat gesagt: ›Ihr Kinder, ihr werd's net begreifen, mir war's ja schlecht. Ich hab langwegs auf dem Hof gelegen und der Tirras (der Hund des Hauses) hat mich wach geleckt.‹«
Es ist der Beginn einer Anämie und Leberzersetzung. Mit Aufbauspritzen wird ihm geholfen. Zunächst genügt jedes halbe Jahr eine, später wird er sie alle vier Wochen benötigen.
Die Krankheit kann Jean Mettens Lebenszufriedenheit nicht nehmen. Er ist mit sich und Gott im Reinen und arbeitet auch an den beiden so lange geplanten Zyklen: Kreuzweg und Würzwisch.
Der Bruder dagegen bleibt ein äußerlich immer mehr verbitternder Zeitgenosse. Mit dem gelebten Leben unzufrieden, weil der Maler den Durchbruch erst gar nicht angestrebt hat, und damit sein – Andreas – Lebensziel nicht erreicht ist. Und nun droht der Sohn, die gleiche Laufbahn einzuschlagen.
Dieser reagiert auf die schweren Konflikte um seinen Berufswunsch mit Krankheit. Doch der Onkel stärkt ihm den Rücken. Ein anderer Schicksalsschlag trifft jedoch das Mettensche Haus.
Die älteste Tochter Apollonia, erklärter Liebling des Vaters und treibende Kraft der Geschwister, wird 1953 unweit des Elternhauses von einem Auto überfahren. Ihr Söhnchen Wolfgang überlebt – sie selbst stirbt nach wenigen Stunden.
Das bricht den Vater Andreas endgültig. War er ohnehin ein schwer zugänglicher, mit sich und der Welt ringender Mensch, der die Seinsfrage wieder und wieder stellte, so streckt ihn dieser Schicksalsschlag nieder. – Der Bruder Jean verarbeitet den Tod der geliebten Nichte stiller, doch auch an ihm nagt es. Unbeschwert ist in diesem Haus keiner mehr.
Der Vater, der täglich von der Wirtschaft aus die Unfallstelle sehen kann, will raus, will sich irgendwo neu einquartieren. Seine Umbaupläne zum 75. Jubiläum der Wirtschaft verschwinden wie seine Lebensfreude.
Als die Tochter zu Grabe getragen wird, ist der Onkel nicht dabei. Jean Metten hat eine große Abneigung gegen Friedhöfe. Religiös wie er ist, kann er sich dennoch mit der Atmosphäre von Friedhöfen nicht anfreunden. Tief im Inneren gelingt es ihm offenbar nicht, den »Gottesacker« als friedvolle Zwischenstation vom irdischen zum himmlischen Leben zu betrachten. Trotz seines Glaubens hat er Angst vor dem Tod. Und da dieser so unversehens ein blühendes Leben aus der Familienmitte gerissen hat, leidet der Maler still für sich.
Von den familiären Schlägen unbeeinflußt ist Mettens weiteres Schaffen sicherlich nicht. Aber sein Auftreten der Öffentlichkeit gegenüber wäre wohl auch ohne diese Ereignisse so scheu und zögerlich gewesen, wie es war.
Es gelingt tatsächlich, ihn zur Teilnahme an einer Ausstellung zu bewegen. In Alzey wird 1953 die Schau »Unser Rheinhessen« präsentiert. Es stellen aus: Heinz und Alfred Mumbächer sowie Jean Metten. Es ist schon außergewöhnlich, daß sich Metten zu dieser Zeit mit Werken der Öffentlichkeit präsentiert, wer weiß, wer ihn wie lange dazu bekniet hat.
Aber zur Eröffnung reist Metten nicht an. Er flüchtet sich in Krankheiten, die allerdings nur vorgeschoben sind. Er mag keinen Rummel um seine Person, und so muß sich die Alzeyer Zeitung mit dem Hinweis begnügen: »Heinz Mumbächer ... begrüßte auch im Namen seines leider am Erscheinen verhinderten Kollegen Metten ...« Jean Metten ist nicht verhindert, Jean Metten will nicht.
So sind sich Heinz Müller-Olm und der Neffe Johannes auch nicht sicher, ob der Maler zu einer Ausstellung erscheint, die ihm ganz alleine gewidmet ist. Zum 70. Geburtstag eine Werkschau im Gasthaus »Zum Engel«, Nieder-Olm. Heinz Müller-Olm und der Neffe Johannes müssen die Organisation übernehmen, suchen Bilder aus, hängen sie, laden ein. Jean läßt sie gewähren und macht selbst kein bißchen.
Am Tag der Eröffnung sind sich die Familienmitglieder und Freunde denn auch ungewiß, ob der Maler die wenigen hundert Meter von der Wirtschaft »Zur Schönen Aussicht« ins Gasthaus »Zum Engel« gehen wird. Oder ob er auch jetzt »am Erscheinen verhindert ist«.
Er kommt, setzt sich still in eine Ecke und freut sich. Die Ehrung im heimischen Kreise, sie tut ihm gut. Die Ausstellung ist mit Liebe ausgewählt und gehängt. Ein Quartett spielt Mozart, ein Kirchenteppich sorgt für die richtige Atmosphäre im Tanzsaal der Wirtschaft. Die Graphiken hängen im Vorraum, Portraits an der Rückbahn der Bühne, rheinhessische Landschaften links und an der Fensterwand Aquarelle. Eine große Fahne, ein schönes Ausstellungsschild und treffende einleitende Worte von Hans Ulbricht, einem Mainzer Kunstkenner, besser repräsentiert und trotzdem heimatverbundener hätte es kaum getroffen werden können.
Der Maler, der bei der Bild-Auswahl noch gebremst hatte: »Nein, nein, das Bild nicht – und das ist auch noch nicht fertig«, sitzt jetzt da und läßt das alles wohlgefällig geschehen. Aber schon das anschließende Schinken-Essen im Hause Metten, bei dem er an der Kopfseite des Tisches sitzen muß, ist ihm wieder fast peinlich. Das alte Lied: Anerkennung freut ihn, er braucht sie. Doch er ist viel zu scheu, um sie in aller Öffentlichkeit auch gerne hinzunehmen. Er wäre lieber dabei, ohne dabei zu sein.
Die Ausstellung und der Tod der Nichte Apollonia ändern nichts am sehr gespannten Verhältnis zwischen Andreas Senior und Johannes Junior. Denn der junge Mann macht sich auf, seine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Die Stimmung im Hause und die rührende Sorge, mit der Jean dem Neffen nachhängt, lassen sich am besten in Briefauszügen wiedergeben. Der Onkel schreibt:
Maria Lichtmeß 53
» ... Nun etwas Persönliches. Ich war 30 Jahre alt, 1914 – mitten im Akademiestudium in Leipzig –, da kam der Erste Weltkrieg. Fast vier Jahre Soldat. Und erst 1918 wieder nach Leipzig. Und das ging Millionen so: 4, 5, 6 und noch mehr Jahre Soldat. Ich will Dir hiermit sagen, daß Dir Zeit, viel Zeit zum Gesunden bleibt – und mach Dir keine Gedanken um das Später. Dein Vater ist ein Grübler einerseits und mißtrauisch aus überreichem Erleben. Und leidet selbst mehr darunter als Ihr es ahnet. Und er ist um Dich besorgt, vielleicht mehr, als Du es für möglich hältst. Eine übergroße Liebe und Sorge für Dich ist in dieser rauhen Schale. Und aus lauter Liebe und Sorge macht er sich die unnötigsten Sorgen. Die Folgen sind Bitterkeit, Unverstandenheit usw., usw. Bei allem, was einmal sei – diese große Liebe und Sorge setze immer als erstes Plus in Deine Rechnung – und das Resultat wird ganz anders sich gestalten.«
»24/3/53 Lieber Johannes, wir erwarten Dich!
Wohl wird es bei Dir, der Du so lange fort warst, einige Beklemmungen geben. Einen Rat: Komme vollgefüllt mit Optimismus. Bewußt böse will Dir niemand sein. Dein Kranksein war eine große Prüfung – für uns alle auch – möge sie uns zum Heile sein. Weiter Gott befohlen. Gute Wünsche und frohes Wiedersehen. – Dein Onkel Jean und alle.«
Zweierlei will der Onkel. Den Bruch zwischen dem Neffen und der Familie vermeiden und Johannes die Ausbildung finanzieren, obwohl es ihm schwer fällt, die künstlerische Eigenständigkeit des jungen Mannes, der eine ganz andere Generation und damit Kunstauffassung vertritt, zu akzeptieren. Johannes zu einem Vorfall während der Studienjahre:
»Der Onkel hat sich über die Jahre als der letzte große Radierer apostrophiert. Er war der Meinung, die Jugend interessiert sich für diese Technik nicht mehr ... Mit diesen Techniken hat er sich auch sehr stark und sehr entschieden an mich gewandt. Vielleicht hatte ich deshalb eine Antipathie und mich dem nie recht gewidmet. Das war schon ein bißchen aufdringlich, das Überstülpen einer bestimmten Sicht, die er als wichtig ansah. Er hat genau das Gegenteil bei mir bewirkt.
Es war in einer Ferienbegegnung, da hab' ich einen Kollegen aus München mitgebracht, der hatte sich stark mit Radierung beschäftigt. Als Onkel davon erfahren hat, fing er an: ›Ja, wir radieren mal zusammen.‹ Der Freund war offen und hat sich ehrlich interessiert. Das war der Anlaß , einen Radiertag einzulegen. Da haben wir gemeinsam radiert. Das lief ganz gut, bis zu einem Punkt. Da hab' ich eine kleine Sache nicht so verfolgt, wie sie der Onkel gerne gehabt hätte. Da wurde er energisch – und ich hab' den Krempel hingeworfen und bin weggegangen. Es war 'ne technische Kleinigkeit im Ätzvorgang, wo 'ne weitere Nuance von ihm erwartet wurde, was ich nicht als so wichtig empfand. Das war der Aufhänger. Aber der Hintergrund war eigentlich schon jahrelang fixiert.«
Was er bei seinen anderen Schülern im Nachkriegsjahr richtig gemacht hatte: »Er wollte keine kleinen Mettens aus uns machen« – beim Neffen macht der Maler-Onkel es verkehrt. Der Grund ist klar: Er liebt Johannes viel zu sehr, um den nötigen Abstand zu haben. Diese Liebe freilich kann durch solche Vorfälle nicht belastet werden. Jean hilft und versucht mit allen Mitteln, den Kontakt zwischen Johannes und der Familie aufrecht zu erhalten. Dazu wieder Briefauszüge:
» ... Am Adventstag, 30. November, soll für die Weihnachtsausstellung eingeliefert werden. Möchte den Stich »Sebastianus im Zorn« beigeben. Kann aber den Druck nicht finden. Weißt Du ungefähr, wo er liegt?«
» ... so stelle ich Dir den Betrag des vorjährigen Staatsankaufes zur Verfügung. Das wird wohl fürs Sommersemester reichen ... Wenn Du Deine Wohnung in München halten willst, die Miete zahle ich.«
»Nun ist noch immer keine Post von Dir angekommen, seit Du von hier fort bist. – Stimmt das?«
»Wie ich eben so nebenbei erfahre, soll Andreas Dir über die ›Pläne‹ usw. Deines Vaters geschrieben haben. Von mir aus möchte ich Dir sagen: Lasse Dir Dein Studium nicht vorzeitig beenden oder abbrechen. In großer Sorge – viele herzliche Grüße Dein Onkel Jean.«
Die Sorgen sind zwar berechtigt, doch der Neffe gibt sein Studium nicht auf.
Im Hause Metten ändert sich viel in dieser Zeit. Die »Kinder« sind erwachsen: Die beiden Nichten Barbara und Elisabeth heiraten und ziehen außer Haus. Gerade die Heirat der Nichte Barbara zeigt einmal mehr deutliche Unterschiede zwischen den alten Brüdern Jean und Andreas auf:
Barbara war schon jahrelang mit ihrem späteren Mann »gegangen« und heiratete noch im »Trauerjahr« nach dem Tode Apollonias. Der Vater Andreas, mißtrauisch wie er ist, schneidet seine Tochter, weil er vermutet, daß biologische Gründe die jungen Leute dazu zwingen, den ursprünglich vorgesehenen Heiratstermin einzuhalten. Der Onkel dagegen besucht das junge Paar, das ins Anwesen seines Ateliers einzieht, vom ersten Tag an. Er hätte für die »menschlichen Verfehlungen« sicher Verständnis gehabt. Indes: Die Sorge ist unbegründet. Der älteste Sohn kommt mehr als ein Jahr nach der Hochzeit auf die Welt. Da ist auch Andreas zumindest so weit versöhnt, daß er die Tochter und deren Mann nicht mehr gar so barsch schneidet.
Der alte Mann bleibt verbittert. Sein Bruder, dem er das ganze Leben gewidmet hat, ist kein großer Künstler geworden, kein bekannter Mann. Und das nicht, weil er es nicht gekonnt hätte, sondern weil er es nicht wollte. – Der älteste Sohn geht ähnliche Wege – und die älteste Tochter ist tot.
Andreas Metten will raus aus der »Wirtschaft zur Schönen Aussicht«. Er plant, sich auf dem Zornheimer Berg inmitten von Obstfeldern eine kleine Bleibe einzurichten. Dazu kommt, daß die Schwester der Brüder Metten, Apollonia, 78jährig stirbt. Das fromme, hilfsbereite, gutmütige und arbeitsame Wesen stirbt an Alterskrebs. Der Neffe Johannes:
»Als ich etwa sieben Wochen vor dem Tod zum letzten Mal von der Tante Abschied nahm, da saß sie im Bett und hat gelacht und hat mir nachgewunken. Und der Onkel stand am Fenster und hat geweint. – Onkel war ein sehr weicher Mensch.«
So gläubig der Maler ist, den Tod hat er für sich nicht verarbeitet. Auf einen Brief an den studierenden Neffen Johannes zeichnet er eindrucksvoll das Totengesicht der Schwester, ein für ihn außergewöhnliches Motiv.
Auch zur Beerdigung seiner Schwester ist Jean Metten nicht auf dem Friedhof.






Sammler und Bewahrer alten Wissens –
Der Würzwisch-Zyklus    


Künstlerisch bringen die 50er Jahre trotz aller privater Wirren, Krankheiten und Schicksalsschläge den Abschluß seines großen Würzwisch-Zyklusses. Zwar hat Jean Metten immer noch niemanden gefunden, der ihm Texte zu den Bildern schreiben könnte, doch sein Ziel, die 33 der Würzwisch-Madonna geweihten Heilkräuter darzustellen, erreicht er. Mit dem Plan dazu hat er sich ja schon Ende der 20er Jahre herumgeschlagen, seine letzte Zeichnung datiert vom 1. 8. 1956. Mehr als 25 Jahre also hat der Maler gebraucht, um den Zyklus abzuschließen.
Die lange Zeitspanne liegt nicht nur an den schlechten äußeren Umständen. Metten ist kein konzentrierter Arbeiter. Er schafft es nicht, zügig und diszipliniert zu arbeiten. Sein Atelier steht voller Bilder, die nur teilweise fertig sind, die er mal um mal hervorholt, um weiter daran zu malen. Das führt im Extrem sogar dazu, daß offensichtlich ausgereifte Bilder nicht von ihm freigegeben werden, weil er da und dort noch weitere Verbesserungen anbringen will.
So porträtiert er Ende der 20er Jahre Elisabeth Sassenroth: »Wenn ich gewußt hätte, was auf mich zukommt, daß ich ein halbes Jahr lang jeden Samstag da hinpilgere, da hätte ich gleich nein gesagt. Man hat ja samstags morgens noch gearbeitet – und den Mittag, das bißchen Freizeit, das man hatte, das habe ich noch abgesessen. Und immer ein und dieselbe Stellung. Ein und derselbe Platz mit der Fensterbank – ach, ich bin oft fast eingeschlafen ...
Dann war das Bild so weit gediehen. Ich hab' ein Buch in der Hand gehabt. Und die eine Hand, die
das Buch gehalten hat, die ist ihm nicht so richtig geglückt. Er hat gesagt: ›Da muß ich noch was anderes machen! ...‹
Mittlerweile ist sein 70. Geburtstag gefeiert worden. Das war mit der Ausstellung beim Engel. Da bin ich eingeladen worden und hab' geguckt: ›Wo ist denn dein Bild? Das ist ja gar nicht da!‹ – ›Ei ja, das ist ja gar nicht fertig.‹ Da hab' ich gesagt: ›So, ist es die Unvollendete ...‹
Später hab' ich ihn wiedergesehen. Da hat er gesagt: ›Ei, das machen wir noch fertig.‹ Das hat dann wieder 'ne ganze Zeitlang gedauert. Und dann hat er mich wieder bestellt. Ich sollte mal zu ihm kommen. Und da hatte er die Hand ein bißchen gemacht ... Er hat das dann mit der Hand fertiggemacht. Das war Ende der 60er.«
Nach fast 40 Jahren verkauft Metten das Bild der Frau, die in schweren Zeiten kostenlos für ihn Modell gesessen hatte, für 100 Mark. Und die behält er nicht, die schickt er in die Mission.
Seine Eigenheiten führen auch dazu, daß er nur wenige Bilder wirklich zum Verkauf gibt. So ist es im Lauf der Jahrzehnte sein Bruder Andreas, der bestimmend sagt: »Dieses Bild ist fertig, das wird jetzt signiert und verkauft.« Denn so manches Mal müssen sich Interessenten mit Jean Mettens Auskunft abspeisen lassen, er habe momentan kein fertiges Bild zum Verkauf parat.
Ortsbürgermeister Eifinger will zum Beispiel einmal eine rheinhessische Landschaft für die Gemeinde Nieder-Olm kaufen. Metten hat das Bild kurz vorher fertiggestellt. Da erhebt sich für ihn die Frage: Wie vermeide ich den Verkauf? Jean Metten macht es ganz geschickt: Er schenkt das Bild dem Neffen Johannes. Darauf bittet der Bürgermeister um ein neues, das ja noch gemalt werden könne. Auch dieses Ansinnen schlägt der Maler mit windelweichen Erklärungen aus.
Unter Druck zu malen, und ein geplanter Verkauf ist für ihn Druck, das ist unmöglich. Er verkauft nur, wenn sich's denn gar nicht vermeiden läßt.
Den Würzwisch schafft er jedoch nicht nur um der Schönheit der wilden Heilkräuter willen. Jean Metten befaßt sich mit altem Brauchtum, er will das Wissen der Ahnen, ihre Gewohnheiten und Bräuche der Nachwelt überliefern.
So treibt er gerne Heimatkunde. Das Wissen um die alten Orte wie Reichelsheim, die Geschichten um Olmena und die Laurenziburg will er bewahren. Der Schullehrer Rektor Roth leistet dabei die meiste schriftliche Arbeit. Doch auch der Onkel macht sich Notizen, sammelt, erzählt und läßt sich erzählen.
Freilich bringt er es nicht zuwege, die Notizen zu ordnen, katalogisieren, systematisieren. Sein Tisch ist voller Blätter, ein chaotisch anmutender Wust. Eine regelrechte Sammellaune entwickelt der Mann.
Sein großes Hobby, das einzige, das er wirklich pflegt, sind Briefmarken. Da lebt er auf. Er hat zwar nie viel Geld, aber das, was er hat, reicht, um die neuesten Marken im Viererblock zu kaufen. Seine Sammelgebiete: Deutschland und Vatikan. Was er doppelt hat, das steckt er für die Kinder in Alben zusammen, um sie auch zum Sammeln anzuhalten. Es gelingt ihm, einige Familienmitglieder zu Briefmarkensammlern zu machen.
Den neuen Michel-Katalog läßt er sich alljährlich aus Mainz mitbringen. Weniger, weil die Marken für ihn eine Wertanlage sind, als mehr aus purem Sammlerstolz. Er bastelt sich aus Pappe selbst seine Alben, und aus einer Mischung von Mehl und Speichel klebt er seine geliebten Marken ein.
Ähnliche Alben aus grobem Karton macht er sich, um Kalenderbilder, Zeitungsausschnitte und Sprüche anscheinend ohne System einzukleben.
Die alten Geschichten und Brauchtümer Rheinhessens lassen sich freilich nicht wie ein Bild in ein Album kleben. So erzählt er oft Geschichten von den Mühlen um Nieder-Olm. Von einem ermordeten Müller, über dessen Tod die Ehefrau erst auf dem Sterbebett berichtet. Denn mit der Erklärung »Er ist nach Amerika ausgewandert«, war das Verbrechen vertuscht worden.
Die alten Geschichten dienen auch dazu, die Novellen Wilhelm Holzamers zu interpretieren, denen oft genug wahre Begebenheiten zugrunde liegen. Jean Metten kann das alles erzählen und bemüht sich, es den Angehörigen zu vermitteln.
In den 50er und 60er Jahren kann er sich denn auch maßlos darüber ärgern, daß etwa das Amtsgericht abgerissen wird, die Apotheke an der katholischen Kirche umgebaut wird, die Heiligenhäuschen im Felde vernachlässigt werden. Er will bewahren.
Seine Sorge gilt vor allem den Pflanzen. Klar, daß der Bauernsohn jeden Schmetterling kennt, alle Blumen einordnen kann, und in Disteln und Brennesseln eben kein Unkraut, sondern Wild- und Heilkräuter sieht. Entsprechend kritisch steht er den Neuerungen der Landwirtschaft gegenüber, sieht er doch die wichtigen Lebensräume für Tiere und Pflanzen langsam zerstört. Die Meinungen, die sein Berliner Freund, der Botaniker Allmang, äußert, gelten auch für Jean Metten:
»Gegen frühere Jahre hat die Vogelwelt sehr abgenommen. Die Vögel verlieren ihre Lebensbedingungen, die sie jeweils brauchen. Durch das Sprühen mit Pflanzenschutzgiften sind die Insekten fast ausgestorben. Keine Bienen, Hummeln und Käfer mehr. Die vielen Arten Schmetterlinge, die wir früher hatten, sind nicht mehr da. Der Ertrag der Obstbäume geht herunter, weil die Bestäubung fehlt.«
»Gewiß gelten die Raupen als Schädlinge an Kohlpflanzen. Aber es wird nicht lange dauern, dann sind sie ausgestorben wie viele andere Tierarten auch.«
Der Maler und sein Berliner Freund sind auch in Sachen Stadtentwicklung dem Zeitgeist weit voraus:
»Es ist bedauerlich, in der Altstadt Mainz ein Hochhaus zu errichten. Wir haben bereits die unguten Beispiele in Köln (Haus des Gerling-Konzerns neben der bedeutenden Kirche St. Gereon) und in Koblenz. In beiden Städten leidet darunter der alte Baubestand.«
Jean Metten, der Mann, der alles bewahren will, forscht auch die eigene Ahnenreihe aus. Um diese Arbeiten zu vervollständigen, führt er Briefwechsel mit Alterskameraden. Für sein Wissen über Pflanzen, wie die im Würzwisch enthaltenen, korrespondiert er mit dem Botaniker Allmang. Dieser wird in den letzten beiden Lebensjahrzehnten ein Freund, mit dem sich der Maler sehr rege austauscht. Der Berliner befaßt sich mit Mettens Interessen: »Der Grabstein von 1645 ist zerstört, schreiben Sie. So geht immer mehr verloren, und wenn es nicht wenigstens aufgeschrieben wird – nachher weiß niemand mehr etwas davon.«
»Wesentlich wäre, über den Würzwisch und seine Bedeutung und Geschichte etwas zu schreiben ... Findet heute am 15. August in der Pfarrkirche noch immer die Würzwischweihe statt oder ist dieser alte Brauch in Vergessenheit geraten? Während meiner Mainzer Zeit war ich mit dem Dr. Paul Spiess bekannt. Der wußte auch genau wie Sie noch von alten Bräuchen.«
Den Würzwisch-Brauch immerhin wird Metten noch publik machen können. Jahre später, zu seinem 80. Geburtstag, wird seine letzte Ausstellung im Mainzer Blütenhaus den Würzwisch zum Thema haben. Der Begleittext:
»Die Bildnisse dieser Ausstellung zeigen Pflanzen, denen schützende und heilende Kräfte zugesprochen werden. Von altersher wollten die Menschen diese Kräfte in übermenschlicher Obhut wissen, das heißt, in vorchristlicher Zeit waren sie den Göttern anvertraut, in christlicher Zeit den Heiligen und der Mutter Gottes. Sie wußten, daß die Menschen Unheil mit diesen Kräften stiften könnten (Hexen und Zauberer). In unserer Gegend heißt dieser Kräuterstrauß Würzwisch, in Nieder-Olm, der Heimat das Malers: Werzwisch. Andere Namen im west- und süddeutschen Sprachgebiet sind: Weihbüschel, Weihenne, Himmelfahrtsstrauß und Marienkräuterstrauß. Eine wichtige Rolle bei der Zusammenstellung des Straußes spielen heilige Zahlen 3 und 7 mit allen Vielfachen bis 99, in Nieder-Olm sind es 33 Pflanzen.
Die Zusammensetzung des Straußes richtet sich nach dem Standort und der Bodenbeschaffenheit: Waldgegend, Wiesenland, Sumpf- und Heidegebiet, Ackerraine, auch Gartenpflanzen werden genommen (zum Beispiel in Gonsenheim Zwiebeln und Lauch). Die Leute, besonders in ländlichen Gegenden, bringen heute noch die selbstgepflückten Sträuße am 15. August – Mariä Himmelfahrt – zur Weihe in die Kirche. Sie wollen Glück und Segen sichtbar nach Hause tragen: Als Schutz vor Gewittern und Segen für das ganze Haus, auf dem Speicher aufgehängt, dem Viehfutter beigemischt vorbeugend gegen Krankheiten und als Hilfe beim Kalben, den Menschen als Mittel gegen jede Art von Gebrechen, den Toten zur ewigen Ruhe. Geweihte Getreidekörner werden unter das Saatgut gemischt. Alles Lebendige, das mit dem Kräuterbüschel berührt wird, bekommt besondere Kraft. Man bereitet aus den geweihten Pflanzen heilbringende Tees und Salben (Hildegard von Bingen empfiehlt in ihrem Kräuterbuch das Pflücken der Pflanzen bei zunehmendem Mond). Die Mediziner haben wissenschaftlich viele Eigenschaften der Kräuter bestätigt: Lindern, Kühlen, Schweißtreiben, Berauschen, Heilen. Das Volk sieht mancherorts auch heute noch nicht nur heilkräftigende Wirkungen, sondern glaubt, es wohne diesen Pflanzen ein starker Zauber inne – das Aufhängen des Straußes im Haus oder das Beisichtragen bestimmter Pflanzen genügt ihnen schon.«
Die Ausstellung wird ein Erfolg. Ein letztes Mal steht Jean Metten mit seiner Kunst im Mittelpunkt, genießt es, Schulklassen Rede und Antwort zu stehen. Doch sein langgehegter Wunsch, die Zeichnungen in Buchform zu veröffentlichen, erfüllt sich nicht.






Mahner in der Wirtschaftswunder-Zeit –
Das »Kreuzweg«-Debakel    


Die 50er Jahre bringen Deutschland den wirtschaftlichen Aufschwung und relative politische Freiheit. Die Metten-Brüder sind den Entwicklungen gegenüber skeptisch wie je.
Gustav Heinemann, der 1950 als Innenminister wegen der Wiederbewaffnungspolitik zurücktritt, ist für sie ein Politiker, der wählbar ist. Obwohl die Mettens in den Amerikanern die Befreier vom Nazi-Regime sehen – sie sehen auch die Gefahren, die von der Coca-Cola- und Kaugummi-Nation ausgehen. So mahnt Jean die Neffen und Nichten: »Wählt den Heinemann, das ist der einzige, der keinen Krieg will.« So läßt die politische Entwicklung die Brüder unvermindert knottern und zetern. Als die Bundeswehr gegründet wird, sind sie radikale Gegner: »Genug Soldatches gespielt. Soll das ewig so weitergehen?«
Die Erneuerungen passen den beiden überhaupt nicht. Das bezieht sich auch auf die Kirche. Ein neues Gesangbuch wird im Bistum Mainz konzipiert. Der Freund Richard Knies ist Mitautor, im Grünewald-Verlag wird es später gedruckt. Das gibt Anlaß, trefflich über den Gottesdienst zu streiten, sich mit Guardini, Papini und der aktuellen Kirche auseinanderzusetzen. Die Mettens sind auch da konservativ, wollen die Entwicklung nicht mitgehen, sehen nach dem Rausch des großdeutschen Wahns den Glauben und die rechte Lebensführung nun im Konsumrausch verschwinden. Aus Protest gegen neue Gottesdienstformen wird Andreas später sogar den neuen Nieder-Olmer Pfarrer Norbert Pfaff boykottieren. Er geht lieber nach Sörgenloch, wo ein alter Pfarrer die Messe noch nach dem alten Ritus zelebriert. Denn Laien, die Kommunion austeilen oder Bußmessen statt Ohrenbeichte, das ist für Jean und Andreas nicht akzeptabel.
Die Brüder sind nun beide über 70. Jean, der Künstler, beginnt zu kränkeln und ist sehr kälteempfindlich. Entsprechend ist sein Aufzug. Er hat zwei oder drei Pullover übereinander an, darüber einen Schal um. Nicht elegant, sondern bürgerlich-bäuerisch kommt er daher. Mit Strickjacke, Wams und Spazierstock läuft er wie ein hutzeliges Männchen über die Straße, Sommer wie Winter. Denn: »Was gut ist für die Kält, ist gut für die Hitz.« Wenn er dann doch seinen Schnupfen hat oder es kratzt ihm im Hals, dann ist er »krank« und läßt sich gerne bekuren.
Sein körperlicher Ausgleich reduziert sich immer mehr. Wenn er Holz hackt, dann ist nach wenigen Scheiten für ihn die Arbeit erledigt. Oder wenn der Groß-Neffe Wolfgang mit ihm in den Garten zieht, um dort »wieder alles auf Vordermann« zu bringen, dann haut der alte Mann zweimal mit der Hacke in den Boden, ein Unkräutlein ist draußen und der Maler sagt: »So, des wär' genug geschafft.« Obwohl er körperlich durchaus noch einiges mehr verkraften würde. Aber er zieht sich zurück, ist kaum noch aktiv. Sein Geld, aus Zuschüssen, gibt er den Kindern oder verschickt es an Missions-Institute.
Seine künstlerische Arbeit in den letzten 15 Lebensjahren wird weniger. Nur zwei kleine Gefälligkeiten erweist er Freunden: Er entwirft für die Hubertus-Mühle ein Firmen-Emblem und die Ehrenurkunde zu einem Dienstjubiläum eines Freundes.
Ansonsten arbeitet er an dem dritten Zyklus und der größten Enttäuschung seines Lebens: dem Kreuzweg.
Die Idee zum Kreuzweg ist alt. Die ältesten erhaltenen Skizzen sind mit dem 20. 10. 1927 datiert. Drei Jahre später, bei der Papst-Audienz, spricht Jean Metten davon, einen Kreuzweg für die Pfarrkirche schaffen zu wollen.
Angeregt wird er dazu womöglich durch seine Freundschaft mit Richard Knies. Denn im Matthias-Grünewald-Verlag erscheint Anfang der 20er Jahre ein Büchlein mit dem Titel »Der Kreuzweg unseres Herrn und Heilands«. Romano Guardini ist der Verfasser. Die Brüder Metten und der Verleger Knies reden sicher auch über dieses Werk. Denn Guardini will mit der Schrift dem Gelehrten ein Stück Volksandacht nahe bringen:
»In ihren Gedanken und Worten ist Volksandacht ganz wirklichkeitsgemäß, dem Erdboden nahe, mit alltäglichem Leben gesättigt. Ihr Gefühlston warm, reich die Gestalten ihrer Vorstellung, ungebunden ihre geistige Bewegung. Sie ist umgänglicher, menschlicher möchte man sagen, in ihrem Gehaben als die Liturgie. Sie hat weniger strengen Stil. Dafür ergießt sich in ihr das Seelenleben ungehemmter. Sie hat weniger Kultur als jene, dafür kommt vielfach die Natur ursprünglicher zum Ausdruck, von ganz innigen, zarten, bis zu den kräftigsten Regungen.«
Der Kreuzweg wird von Guardini als »schönste und älteste aller Volksandachten« bezeichnet: »Mehr als jede andere (Andacht) ist er geeignet in jener zugleich ehrerbietigen und zutraulichen, ungezwungenen und doch wieder geformten Weise, wie das Volkswesen sie zu eigen hat, dem Leiden des Herrn nahezukommen.«
Was liegt dem rheinhessischen Volk so nahestehenden Jean Metten näher, als diesen Kreuzweg als Ausdruck des Glaubens zu schaffen? Den Heiland am Kreuz hat er ebenso wie die Muttergottes und den hl. Sebastian oft gemalt. Der Kreuzweg soll Krönung seiner stillen Arbeit als Maler Rheinhessens werden.
So bringt er seine eigenen Noten in das Werk. Da erscheint Simon mit einer Weinbergsharke, d. h. Metten siedelt den Kreuzweg bei den einfachen Menschen an. Noch etwas ist bei ihm ganz anders: Für ihn endet der Kreuzweg nicht mit der 14. Station: »Jesus wird ins Grab gelegt.« Jean Metten sieht die Station Nummer 15, »Auferstehung Christi«, als den rechten Abschluß des Zyklus' an. Denn ohne Auferstehung, da sind sich ja alle Christen eins mit ihm, macht der ganze Kreuzweg keinen Sinn.
Metten malt den Kreuzweg unter doppeltem Druck: Zum einen will er – ganz ungewöhnlich für ihn – das Werk vollenden. Zum zweiten hat er mit dem Gemeindepfarrer und dessen Vorgänger, dem Geistlichen Rat Vitus Becker, eine Übereinkunft getroffen. Der Kreuzweg soll in der katholischen Kirche zu Nieder-Olm aufgehängt werden. Als Jean Mettens Vermächtnis an die Heimatgemeinde.
Mit dem geistlichen Rat werden Details besprochen. Sogar die Bildgröße wird anhand von alten Bildern, die vor den vielen Restaurationen der Kirche an den Wänden hingen, ausgemessen. Das einzige, worüber offenbar nie gesprochen wird, ist der Preis. Doch ist allen klar, daß Jean Metten hier nicht für Geld malt.
Die Kreuzwegstationen unterscheiden sich formal von allem, was Metten bis dahin gemalt hat. Er verläßt seinen naturalistischen Stil, löst sich von seiner künstlerischen Vergangenheit und somit auch von den Erwartungen seiner Auftraggeber. Als diese die Bilder in halbfertigem Zustand sehen, sind sie enttäuscht. Das ist nicht der Kreuzweg, den sie sich vorgestellt haben.
Das dem Maler offen zu sagen, hat niemand die Stirn. Es käme einem vernichtenden Urteil über die Kunst Jean Mettens gleich. Doch die vermeintlichen Auftraggeber sind sich einig, daß sie ihre Zusagen zurückziehen. Im Glauben, hier sei ein alternder Künstler an seiner Aufgabe gescheitert, lassen sie gar leise Andeutungen verlauten, ob denn nicht der Neffe Johannes, von dem man ja weiß, daß auch er Künstler ist, das Werk vollenden könne.
Daß Jean Metten hier ganz bewußt eigene künstlerische Wege geht, übersteigt ihr Vorstellungsvermögen. Die Zeit hilft Vitus Becker. 1960 tritt Nikolaus Nikolay seine Nachfolge als Gemeindepfarrer an. Schriftliche Verträge existieren nicht. Der neue Pfarrer hat den gleichen Geschmack wie der alte. Auch er kann es allerdings dem Maler direkt nicht sagen. Sein Ausweg: Das Bischöfliche Ordinariat habe darüber zu befinden. So schreibt Nikolay unter Verkennung der verwandtschaftlichen Verhältnisse im Februar 1964 nach Mainz:
»Beiliegend überreiche ich 14 Farbfotos eines Kreuzweges, den der Nieder-Olmer Künstler Herr Metten gemalt hat ... Wie mir mein Vorgänger H. H. Geistlicher Rat Becker und der frühere Kaplan H. Pfarrer Mertens versicherten, haben sie dazu weder schriftlich noch mündlich einen Auftrag gegeben. Allerdings haben beide Herrn Metten einige Male in seinem Atelier aufgesucht und über den Kreuzweg gesprochen.
Durch die bevorstehende Renovierung der Pfarrkirche wurden mir von 3. Seite diese Bilder überreicht. Herr Metten selbst hat bei meinen Hausbesuchen niemals davon gesprochen, aber ich weiß, daß er darunter leidet. Herr Metten, seine Kinder und Enkelkinder7 gehören zu den treu katholischen Familien hier.
Der katholische Kirchenstiftungsrat bittet das Bischöfliche Ordinariat zu entscheiden, ob diese Kreuzwegbilder in ihrer Größe (1 x 1,10 mtr) und farbigen Gestaltung in der hiesigen Pfarrkirche im Zuge der Renovierung angebracht werden können.«
Sieben Monate später antwortet der Generalvikar Haenlein nach einer Sitzung: »Das Bischöfliche Ordinariat kann eine Genehmigung zur Anbringung dieser Kreuzwegbilder nicht erteilen. Der Kreuzweg paßt nicht in die neu hergerichtete barocke Kirche.
Herrn Metten wollen Sie bitte unseren Dank sagen für seine Bemühungen um Mitgestaltung der Kirche.«
Der Schlag trifft Jean Metten ins Mark. Er weiß genau, daß er hier als Künstler nicht akzeptiert wird. Sein Werk wird abgelehnt – unter fadenscheinigen Vorwänden. Seine Abmachung mit dem Kirchenmann Vitus Becker – sie ist nichtig, wird sogar verleugnet. Sein Lebenswerk, von dem er vor mehr als dreißig Jahren dem Papst in Rom erzählte, wird niedergemacht.
Von diesem Schlag erholt er sich nicht. Er versucht zu unterscheiden. Zwischen seinem Glauben, seiner Religion, dem allmächtigen und wohlgefälligen Gott auf der einen Seite, und den schwachen Menschen andererseits, denen jeder Fehltritt verziehen werden müßte. Es brodelt in dem Künstler. Angehörige berichten, wie es manchmal aus ihm herausbricht: »Er schimpfte nicht laut, eher wie ein Gelähmter. Er saß im Stuhl: ›Die Stromer, die Lumpen‹ – man merkte, wie er sich innerlich aufwühlte, ohne äußerlich aus der Haut zu fahren. Auch wenn er sagte: ›Da muß man doch aus der Haut fahren.‹ – Der Schlag mit der geöffneten Hand auf die Stuhllehne, das ist das Äußerste – verbunden mit einem ohnmächtigen Händeringen.«
Auch wenn es ihm nicht gelingt, versucht Jean Metten, innerlich ins Reine zu kommen. Selbstzweifel plagen ihn, er erwägt, den Kreuzweg in eine Mission nach Afrika zu schicken, damit dessen Zweck, den Gläubigen einer Gemeinde optischer Anhaltspunkt für die Rückbesinnung auf das Leiden Christi zu sein, erfüllt wird.
Kämpfen will er nicht. Das versuchen andere. Der Neffe Johannes etwa, für den sich der Onkel in der Vergangenheit so oft eingesetzt hat. Er verwendet sich nun für den alten Künstler und schreibt dem Bischof:
Ȇber die Unklarheiten bei der Auftragserteilung trifft sicher beide Initiatoren (Geistlicher Rat Becker und Maler Jean Metten) Schuld. Doch diese Frage stand bei der jetzigen Entscheidung nicht mehr im Vordergrund.
Der von Jean Metten gestaltete Kreuzweg besitzt ohne allen Zweifel wirklich künstlerische Substanz. Er ist das Alterswerk eines 75jährigen Künstlers, dessen Leben sehr reich war an Enttäuschung und Zurücksetzung. Dieser Kreuzweg beinhaltet persönlich erlittenes Leben in reichem Maße und schöpft seine Gestalten aus einem einfachen bäuerlichen Milieu, aus dem der Künstler selbst stammt und in dem er ein Leben lang gestanden hat ...
Die Ablehnungsbegründung, das Format der Bilder sei zu groß oder einige Farbtöne seien nicht glücklich gewählt, liegt doch sehr am Rande ... Hinzu kommt, daß mir Herr Pfarrer Nikolay erklärt hat, er hätte alles ihm möglich Erscheinende getan, um diesen Kreuzweg in die Kirche zu bekommen.
Wir hier in Nieder-Olm hätten in erster Linie mit dem Werk leben müssen und leben wollen.«
Die Antwort des Generalvikars Haenlein im Februar 1965 lautet: »Es darf Ihnen mitgeteilt werden, daß in die Kirche von Nieder-Olm die von Ihnen vorgelegten Bilder nicht passen. Das Bischöfliche Ordinariat glaubt auf diesem Standpunkt bestehen bleiben zu müssen, diesen Kreuzweg für die Pfarrkirche in Nieder-Olm nicht zu genehmigen. Über ihr persönliches Schaffen und die Qualität der Bilder wird damit nichts ausgesagt.«
Damit ist die Geschichte fast ganz ausgestanden. Auch wenn sich Pfarrer Nikolay nochmals rechtfertigen muß, weil das Bischöfliche Ordinariat – den Neffen mit dem Maler-Onkel verwechselnd – ihn auf Widersprüche befragt: »Der Künstler behauptet in dem Brief, daß Sie, sehr verehrter Herr Pfarrer, ›alles Ihnen möglich Erscheinende getan hätten, um diesen Kreuzweg für die Kirche zu bekommen‹. Es wäre doch wichtig einmal zu wissen, wie Sie sich zu der Ablehnung stellen, da Sie doch vorher mit dem Entwurf nicht einverstanden waren.«
Der letzte Brief in Sachen Kreuzweg stammt vom 8. März 1965. Pfarrer Nikolaus Nikolay schreibt seinen Vorgesetzten:
» ... teile ich Ihnen mit, daß die Entscheidung der Bischöflichen Behörde meiner Erwartung entsprach. Herr Metten sen. hat im Jahre 1958 mit dem Kreuzweg begonnen und ihn innerhalb 2 Jahren soweit fertiggestellt. Während dieser Zeit wurde er von meinem Vorgänger H. H. Geistl. Rat Becker und seinem ehemaligen Kaplan H. H. Pfr. Mertens in seinem Atelier aufgesucht. Wahrscheinlich hat er diese Besuche als Ermunterung betrachtet, an den Kreuzwegbildern weiter zu arbeiten, obwohl er dazu weder schriftlich noch mündlich einen Auftrag hatte. Leider hat man damals versäumt, den Künstler darauf aufmerksam zu machen, daß die Anschaffung eines Kreuzwegs schon vor seiner Ausführung der Genehmigung der Bischöflichen Behörde bedarf ... Als ich damals Dezember 1963 den Kreuzweg durch die Farbfotos zum ersten Mal kennenlernte, verhielt ich mich aus seelsorgerischen Gründen und aufgrund der Vorgeschichte sehr reserviert und sah in der Vorlage bei der Bischöflichen Behörde den einzigen Ausweg, in dieser leidlichen Sache eine endgültige Lösung herbeizuführen ... Ich glaube nicht, daß durch die Ablehnung seelsorgerische Schwierigkeiten entstanden sind. Sein Urenkel8 versieht auch weiterhin treu und eifrig den Ministrantendienst. Als ich gestern im Hause Metten vorsprach und die Genehmigung der Apostelkreuze mitteilte, hatte ich den Eindruck, daß dies zur Versöhnung beigetragen hat.«
Die Apostelkreuze, eine Auftragsarbeit an den Neffen Johannes, werden von Nikolaus Nikolay als Kompensationsgeschäft verstanden, zur Gewissensberuhigung.
Die Entscheidung gegen den Kreuzweg wird Professor Heinz Müller-Olm in seiner Ansprache zum 100. Geburtstag Jean Mettens veranlassen, von »Kunstbanausen im schwarzen Rock« zu sprechen. Jean Metten aber leidet, still.






Abschied von der »Schönen Aussicht« –
Ende eines bescheidenen Lebens    


In der Wirtschaft »Zur Schönen Aussicht« hat sich viel verändert. Ende der 50er hat Andreas Metten Senior sein Häuschen auf dem Zornheimer Berg fertiggebaut. Er zieht raus aus dem Ort, weg von der Stelle, wo seine Tochter überfahren wurde, lebt als Eremit. Seine Frau Apollonia bleibt zunächst in der Wirtschaft. Die wird geschlossen, denn niemand ist da, der sie weiterführen könnte. Auch die jüngste Tochter, Maria, hat kein Interesse daran. Sie ist es, die jetzt den Onkel versorgt, soweit er sich versorgen läßt. In seinen abgetragenen, ihm liebgewordenen Klamotten sieht er zwar recht abgerissen und ungepflegt aus, aber auf solche Äußerlichkeiten legt er keinen Wert.
Anfang der 60er kommt der Neffe Johannes zurück. Er hat seine künstlerische Ausbildung abgeschlossen. Der Onkel Jean ist stolz auf den Neffen. Als dieser 1959 in Salzburg den Kokoschka-Preis erhält, da sagt der Onkel: »Ja, die Grundlage hat er bei mir im Aquarellieren erfahren.«
Daß der Neffe eigenständige Wege geht, völlig unbeeinflußt von des Onkels Schaffen, ja daß sogar große Spannungen existieren, weil die Kunstauffassungen zu gegensätzlich sind, läßt Jean Metten nicht nach draußen dringen. So will etwa Liesel Groß – eine emigrierte Jüdin – ein Bild von Jean Metten erstehen, und weil das nicht so recht klappt, fragt sie an: »Sie schrieben mir mal, daß Ihr Neffe in Nieder-Olm seine Kunst betreibt. Vielleicht hat er etwas, das in Frage käme?« Jean Metten wird ihr nie schreiben, daß vom Neffen – einem zeitgemäßen Bildhauer – keine Heiligen-, Blumen- oder Landschaftsbilder zu erwarten sind.
Der Neffe ist für den Onkel ohnehin ein wandelndes Fragezeichen. Da kommt er vom Studium, baut sein Gieß-Atelier und seine Werkstatt. Kaum steht sie, holt er seine Frau, ebenfalls eine Künstlerin, zu sich, heiratet und weiß nicht, wovon er die nächste Woche leben soll. Diese Risiko-Bereitschaft ist für Jean Metten nicht nachvollziehbar. Er macht sich Sorgen um den Neffen und teilt sie den Brieffreunden mit: »Mein Neffe Johannes, akademischer Bildhauer, hat sich im Hause eine Bronzegießerei eingerichtet. Er muß sehen, wie er durchkommt, denn die wirtschaftswunderliche Zeit in Westdeutschland fängt an zu stocken, und die Künstler sind immer die ersten, die es merken müssen.«
Andreas Senior, der beim Bruder die Last und Hetze des Künstlerdaseins über sechs Jahrzehnte verfolgte, findet sich nun notgedrungen ab mit dem Leben des Sohnes.
Nach und nach stellen sich beim Künstler-Ehepaar Johannes und Liesel Metten Kinder ein. Und die letzte im Haus lebende Nichte Maria heiratet auch. Jean Metten, ein alternder Künstler, erlebt die jungen Familien, das wachsende Leben erneut im engsten Kreise mit. Doch er kann nicht mehr so, wie er gerne möchte. Er kränkelt. Lungenentzündung, Rheuma, eine Terpentin-Allergie an den Händen, was ihm das Malen in Öl unmöglich macht.
So schreibt er an Freunde: »Unser Vater hat immer erklärt, das Alter sei an sich schon eine Krankheit, und dazu kommen noch große und kleine Wehwehchen, so daß die Zeit oft genug ausgefüllt ist.«
Die »Wehwehchen« hindern den Künstler an weiterem Schaffen, obwohl er immer wieder von Bildern spricht, die er noch malen möchte.
Doch seit dem Kreuzweg-Desaster ist der Mann innerlich gebrochen. Als die Nichte Maria mit ihrem Ehemann sich unweit der Wirtschaft ein neues Haus baut, taucht für Jean Metten die Frage auf, wo er denn nun wohnen soll.
Weiterhin in der Wirtschaft, wo er sein ganzes Leben verbracht hat, und dabei einer Künstlerfamilie mit emanzipierter Frau, die zwar auch Kinder hat, aber alles andere als »Hausfrau« im klassischen Sinne ist, früher oder später zur Last fallen? Oder soll er mit der Nichte ziehen. Die zum einen »nur« Hausfrau ist, zum anderen als Blutsverwandte es dem Onkel leichter macht, seine »Wehwehchen« bekuren zu lassen. Der Maler zieht zur Nichte Maria, raus aus der Wirtschaft. Wie alle Beteiligten später erkennen, war dies die beste Lösung, auch wenn Außenstehende den Eindruck bekommen, daß jetzt der alte Mann entwurzelt ist. Das stimmt zwar irgendwie, doch genauso richtig ist, daß sich der Maler schnell in seinem neuen Heim einrichtet.
Seine große Sorge in jenen Jahren: daß in der schnellen, oberflächlichen modernen Welt alles vergessen geht, und daß auch er vergessen wird. So besteht er mit moralischem Druck darauf, daß ihn die Neffen und Nichten mit den Familien regelmäßig besuchen. Er freut sich an deren Kindern. Freut sich auch auf Familienfeierlichkeiten, zu denen die Metten-Großfamilie zusammenkommt. Es geht ihm darum, an ihrem Leben teilzuhaben. Wer ihn besucht, den läßt er so schnell nicht wieder weg. Da sitzt er in seinem Stübchen im Bett, oft genug voll angekleidet, mit Hose, Wams und Schal, das Hemd vorne offen, und erzählt. Er erzählt von früher, vom Krieg und vom Jetzt, so zum Beispiel von der ersten Mondlandung, die ihn fasziniert. Er ist tagespolitisch nach wie vor voll auf der Höhe, weiß um Vietnam und fürchtet sich vor erneutem Chaos in der Welt. Neben der Zeitung ist das Fernsehen als Informationsmedium längst in bundesdeutschen Wohnstuben eingezogen – und Jean Metten nimmt es dankbar an. Vor dem Fernseher sitzt er mittags mit den Kindern der Nichte, abends mit deren Mann. Es ist eine Abwechslung in seinem Leben, das er kränkelnd in seiner Stube mit Briefen an Freunde und Zeichnungen lebt.
Täglich zeichnet er ein Blatt. An den datierten und signierten Zeichnungen läßt sich im Telegrammstil die bauliche Entwicklung Nieder-Olms, von seinem Fenster aus gesehen, nachvollziehen. Seine Motive: Blumen, Straßenszenen, Bauarbeiter, Wolken, spielende Kinder, Hasen, Vögel. Die Vögel füttert er handzahm. Ein Blatt wird von ihm freudig »Die kleine Meise ist wieder da« betitelt. Einem Hasen gibt er sogar einen Namen und verfolgt übers Jahr hinweg mit vielen Zeichnungen sein Leben.
Der Humor des jetzt über 80jährigen blitzt oft genug durch. So zeichnet er eine ganze Serie mit einem Schneemann, dessen Werdegang Tag für Tag verfolgt werden kann. »Schneemann in Not« betitelt er ein Blatt, auf dem der Genosse schmilzt. Am Ende der Serie ist nur noch ein Schneeklumpen zu sehen. Betitelt: »Ende«.
Ein Mann mit Händen in Hosentaschen wird als »Schwerarbeiter« betitelt.
Eine schimpfende Frau vor Kindern, offensichtlich die Nichte Maria mit ihren Kleinen, wird als »Die Chefin« bezeichnet.
Sein Humor erweist sich auch, als eine seiner täglichen Zeichnungen dem dreijährigen Sohn der Nichte, Alfons, in die Hände fällt. Dieser krakelt mit kindlicher Hand Striche auf das Blatt. Der Onkel sieht es und schreibt darunter: »Alfons, Korrektur.«
In den letzten Monaten beginnt er, viele seiner Unterlagen zu verbrennen. Korrespondenzen und wer weiß welche Dokumente, die für Nachfahren hätten sehr wichtig sein können. Warum er sie verbrennt, bleibt offen. Zum einen will er ja altes bewahren und wird darin von seinem Brieffreund Allmang aus Berlin bestärkt, der ihm schreibt, er solle ja alles aufheben, um der Nachwelt sonst verlorenes Wissen zu erhalten. Zum anderen ist da aber auch sein Freund Ordensbruder Stephan aus Wien, der ihn auffordert: »Alle alten Briefe ins Feuer.«
Die Last des Alters drückt jetzt schwer auf Jean Metten. Geistig rege, ist er körperlich nicht mehr in der Lage, zu schaffen oder sonstwie aktiv am Leben teilzunehmen. Die wenigen Besucher bekniet er, doch recht lange dazubleiben. Sie erleben es oft genug, daß der im Bett sitzende Maler mitten in einem Gespräch einschläft. Die Briefe, die er nach wie vor an seine Freunde in Wien, Berlin und Übersee schreibt, bestehen aus wenigen, dürren Zeilen, entstehen Satz für Satz über Tage hinweg.
Als er am 1. Juni 1971 87jährig ins St. Vincenz-Krankenhaus in Mainz eingeliefert wird, hat er mit dem Leben freilich noch längst nicht abgeschlossen. Seit 30 Jahren hat er immer wieder betont: »Wenn ich doch nur noch diese Hochzeit mitbekomme. Wenn ich nur noch jene Geburt erlebe.« Von Ereignis zu Ereignis will er sein Leben weiter leben. Denn er hat Angst vor dem Tod. Sein tiefer Glaube, der ihm bei allen Wirren und Problemen des Lebens geholfen hat, ist ihm an der Schwelle des Todes keine Hilfe zum Übergang ins nächste Leben.
Trotzdem weiß er, daß er bald stirbt und klagt im Krankenhaus: »Guck, wo sie mich hingelegt haben. Ich weiß schon, was da kommt.« Seinem Bruder Andreas hat er schon beim Abtransport ins Krankenhaus gesagt: »Also, in der ewigen Seligkeit sehen wir uns wieder.«
Am 26. Juni 1971 stirbt Jean Metten. Im Arztbericht heißt es: »Der Patient war uns ja schon von einem stationären Aufenthalt im Frühjahr 1966 als Prostatiker bekannt, wobei schon damals deutliche Anzeichen einer Niereninsuffizienz mit Anstieg des Harnstoffes im Blut festgestellt worden war ... In den letzten Tagen nahmen die Zeichen der Urämie deutlich zu, der Harnstoff-Wert war weiterhin hoch und durch die Infusions-Behandlung praktisch kaum beeinflußbar. Offensichtlich ist es jetzt doch zu einer irreversiblen Niereninsuffizienz gekommen, die am 26. 6. 1971 dann in zunehmendem Kreislaufversagen zum Exitus führte.«
Am Dienstag, den 29. Juni, wird Jean Metten beigesetzt. Er liegt auf dem Friedhof in Nieder-Olm, neben seiner Schwester.
Die Gemeinde Nieder-Olm widmet ihm Anfang der 80er eine Straße: den Maler-Metten-Weg, von der B 40 zum Schulzentrum. Mettens Werke sind kaum in Museen zugänglich. Die Stadtverwaltung Mainz, die Gemeinde Nieder-Olm, die Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen besitzen repräsentative Arbeiten. In wenigen Häusern im Großraum Mainz hängen seine Bilder. Der Löwenanteil befindet sich in Familienbesitz, denn der Maler war kein Geschäftsmann. Da er scheu und bescheiden sein begrenztes dörfliches Leben lebte, blieb er unbekannt. Selbst den Kunsthistorikern ist der Name nicht geläufig.


Autor: Stefan Keber


Anmerkungen:

[1]  Fisematente: rheinhessisch für Dummheiten
[2]  »Simpl«-Witze: Simplizissimus, Satirische Zeitschrift
[3]  Mucker-Höhle: von aufmucken
[4]  abgezogen: verprügelt
[5]  Kawaatsch: Karbatsche, Riemenpeitsche
[6]  Die Viehhaltung war in der Besatzungszeit stark beschränkt, Mettens hielten viel mehr Hühner als erlaubt.
[7]  Nikolay meint die Nichten, Neffen und deren Kinder
[8]  Nikolay meint seinen Großneffen


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